box 39/2
5oth and 55th Birthday
SCHNITZLER UND HAUPTMANN. VON FERDINAND GREGORl.
IIs ich noch auf der Schulbank saß, fegte schon ein scheinbar stürmischer
Wind über meine Literaturkenntnisse hin und wollte alte Urteile und
die Ehrfurcht von dem Gewesenen über den Haufen blasen. Ich weiß
nicht, ob mans Naturalismus nannte, aber man meinte ihn, wenn
man von Sudermanns „Ehre“ und Wildenbruchs „Haubenlerche“ furchtbare
Schilderung tat. Darin feierte, so hieß es, der Schmutz der Gasse ekelhafte
Orgien, eine Erhebung zum Edlen und Schönen war unmöglich, die Dich¬
tung dem Faun ausgeliefert, Apollo geschunden. Da nun ein Stückchen
Revolutionär in jedem jungen Menschen steckt, gefiel mir aber manche
Keckheit in beiden Dramen und ich glaubte bedeutsamen Kunstwerken
gegenüberzustehen, die unerhörte Umwälzungen einleiteten.
Das wurde anders, als ich wenige Jahre später Hauptmanns „Hannele“
memorierender und suchender Darsteller. Wo blieben nun Sudermanns Graf
Trast und Wildenbruchs August Langenthal! Ich fühlte, daß ich gar kein
inneres Verhältnis zu ihnen gehabt hatte, sie erschienen mir wie Sprach¬
rohre für Bonmots und großväterliche Lehren. Hier aber, in „Hannele“,
hätte ich am liebsten jede Rolle gespielt — so nahe, so kongruent stand
ich vor den Menschen des Dichters, ob sie nun im gesellschaftlichen Sinne
Lumpen oder Reine waren. Sie reizten den Fond der platonischen Ideen,
die in mir schlummerten, ans Licht und umkleideten sie mit individuellen
Eigenschaften, bis Gestalten daraus wurden. In anderen Stücken kams auf
die technisch gut gearbeitete Pointe an, auf eine Summe provinzmäßiger
Routine, die ein halber Schauspieler dem andern abguckte; hier aber, bei
Hauptmann, übersprang man Technik und Routine, weil der Text sich wie
von selbst in Ton, Haltung und Geste umsetzte. Man schuf von innen
heraus, nicht mehr von außen hinein. Ich spürte das stille sanfte Sausen,
in dem der Herr war (wie's in der Bibel steht), der Schöpfer, der ins Ein¬
geweide sieht und alles Gerede verachtet.
Seit dieser Zeit habe ich Gerhart Hauptmann Werk für Werk geliebt
und habe es ihm nie vergessen, was er mit Hannele an mir Gutes getan
hatte. Viele junge Dichter schritten dann mit und ohne Erfolg über die
Bühne des Brahmschen Deutschen Theaters, dem ich drei Jahre angehörte,
viele Genossen Hauptmanns, aber er blieb mir der Herzensschatz allein.
Bis aus dem Süden einer kam, anders geboren, anders gewachsen und begabt,
anders gekleidet und uns eines Tages die „Liebelei“ bescherte. Der Tag der
Generalprobe ist mir unvergeßlich. Eine neue Landschaft, neue Mensc#ien,
ein neuer Stil des Dialogs, neue Gesetze offenbarten sich; und diese Schnitz¬
lerische Welt hatte es nicht nötig, der Hauptmannschen einen kosmischen
Stoß zu versetzen, um sich durchsetzen zu könen; nein, beide, Herbheit und
Süßigkeit, liefen ihre Bahnen und mein Auge hatte gleiches Wohlgefallen daran.
338
5oth and 55th Birthday
SCHNITZLER UND HAUPTMANN. VON FERDINAND GREGORl.
IIs ich noch auf der Schulbank saß, fegte schon ein scheinbar stürmischer
Wind über meine Literaturkenntnisse hin und wollte alte Urteile und
die Ehrfurcht von dem Gewesenen über den Haufen blasen. Ich weiß
nicht, ob mans Naturalismus nannte, aber man meinte ihn, wenn
man von Sudermanns „Ehre“ und Wildenbruchs „Haubenlerche“ furchtbare
Schilderung tat. Darin feierte, so hieß es, der Schmutz der Gasse ekelhafte
Orgien, eine Erhebung zum Edlen und Schönen war unmöglich, die Dich¬
tung dem Faun ausgeliefert, Apollo geschunden. Da nun ein Stückchen
Revolutionär in jedem jungen Menschen steckt, gefiel mir aber manche
Keckheit in beiden Dramen und ich glaubte bedeutsamen Kunstwerken
gegenüberzustehen, die unerhörte Umwälzungen einleiteten.
Das wurde anders, als ich wenige Jahre später Hauptmanns „Hannele“
memorierender und suchender Darsteller. Wo blieben nun Sudermanns Graf
Trast und Wildenbruchs August Langenthal! Ich fühlte, daß ich gar kein
inneres Verhältnis zu ihnen gehabt hatte, sie erschienen mir wie Sprach¬
rohre für Bonmots und großväterliche Lehren. Hier aber, in „Hannele“,
hätte ich am liebsten jede Rolle gespielt — so nahe, so kongruent stand
ich vor den Menschen des Dichters, ob sie nun im gesellschaftlichen Sinne
Lumpen oder Reine waren. Sie reizten den Fond der platonischen Ideen,
die in mir schlummerten, ans Licht und umkleideten sie mit individuellen
Eigenschaften, bis Gestalten daraus wurden. In anderen Stücken kams auf
die technisch gut gearbeitete Pointe an, auf eine Summe provinzmäßiger
Routine, die ein halber Schauspieler dem andern abguckte; hier aber, bei
Hauptmann, übersprang man Technik und Routine, weil der Text sich wie
von selbst in Ton, Haltung und Geste umsetzte. Man schuf von innen
heraus, nicht mehr von außen hinein. Ich spürte das stille sanfte Sausen,
in dem der Herr war (wie's in der Bibel steht), der Schöpfer, der ins Ein¬
geweide sieht und alles Gerede verachtet.
Seit dieser Zeit habe ich Gerhart Hauptmann Werk für Werk geliebt
und habe es ihm nie vergessen, was er mit Hannele an mir Gutes getan
hatte. Viele junge Dichter schritten dann mit und ohne Erfolg über die
Bühne des Brahmschen Deutschen Theaters, dem ich drei Jahre angehörte,
viele Genossen Hauptmanns, aber er blieb mir der Herzensschatz allein.
Bis aus dem Süden einer kam, anders geboren, anders gewachsen und begabt,
anders gekleidet und uns eines Tages die „Liebelei“ bescherte. Der Tag der
Generalprobe ist mir unvergeßlich. Eine neue Landschaft, neue Mensc#ien,
ein neuer Stil des Dialogs, neue Gesetze offenbarten sich; und diese Schnitz¬
lerische Welt hatte es nicht nötig, der Hauptmannschen einen kosmischen
Stoß zu versetzen, um sich durchsetzen zu könen; nein, beide, Herbheit und
Süßigkeit, liefen ihre Bahnen und mein Auge hatte gleiches Wohlgefallen daran.
338