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Soth and 55th Birthday box 39/2
dem seinen. Wie oft folgte ich Schnitzlers Blick, wenn er die schönen
Mädchen der Josefstadt betrachtete, die Christinen und die Schlagermizzis.
Sie begegneten ihrem Dichter, und es zog ein holdes Grüßen durch die
Luft. Ich aber, im Schatten dieses Dichters, durfte schauen und atmen,
wortlos fragen zum reinen Wiener Himmel empor. Wer will festhalten,
was ein Maitag der Vergangenheit zu Wien ist? Beethoven im alten Schwarz¬
spanierhof, Schubert in den Weingärten draußen, Brahms im Stadtpark.
Vergangen, unverlierbar. Noch ziehen die Schwäne unter den grünen Weiden¬
ruten des Stadtparks. Noch spielen sie zu Füßen des marmornen Grill¬
parzer, die kleinen „Jordans“, wie Hofmannsthal mir einmal die Spielkinder
im Volksgarten genannt. Aber wahre dich, Wien. Wahre Dich. Verlasse
dich nicht auf die Maitage, die von den Bergen kommen — halte dich
selbst auch ehrlich für sie bereit. Amerikanisiere dich nicht, kulturfeste,
vielgeliebte — du brauchst nicht, was Berlin muß. Immer wieder höre ich
die Sphärenklänge Schuberts über dich hinziehen, das Schreiten und abend¬
liche Singen der Burschen in der C-Dur. Immer wieder fürchte ich, sie
bei einer Rückkehr einmal verstummt zu finden. Du hast einen großen
Dichter noch, der dein Erbe wahrt, dein unersetzliches Erbe. Dichter sind
auch mahnende Propheten. Arthur Schnitzler ist es nicht wie Ludwig
Anzengruber, der euch vor Jahrzehnten sein herrlich rauhes Drama vom
„vierten Gebot“ an den Kopf warf. Das neue Gebot, das euch in feurigste
Erinnerung kommen mag, ein elftes vielleicht, umfaßt die zehn gesamt und
wird zu euch sprechen aus dem starken, hoheitsvollen, lieblichen Lebens¬
werke eines Wieners.
TERZINEN. VON OTTO KÖNIG.
Lebendige Stunden danken wir Dir viel,
Der Du wie keiner, Dichter dieser Stadt
Und ihrer Menschen warst. Das bunte Spie!
In ihren Gärten, Plätzen, Straßen hat
Noch keiner so gefangen und bezwungen,
Und keinem formte Schönheit sich zur Tat
Wie Dir, der einst das hohe Lied gesungen
Vom Mädel aus der Vorstadt, schlank und schlicht,
Erschütternd wie es keinem noch gelungen.
Ward dieser Ruhm, den Du erkämpftest, nicht
Zur schweren Last? Und leidest Du nicht sehr
Wenn man Dir heut vom süßen Mädel spricht?
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Soth and 55th Birthday box 39/2
dem seinen. Wie oft folgte ich Schnitzlers Blick, wenn er die schönen
Mädchen der Josefstadt betrachtete, die Christinen und die Schlagermizzis.
Sie begegneten ihrem Dichter, und es zog ein holdes Grüßen durch die
Luft. Ich aber, im Schatten dieses Dichters, durfte schauen und atmen,
wortlos fragen zum reinen Wiener Himmel empor. Wer will festhalten,
was ein Maitag der Vergangenheit zu Wien ist? Beethoven im alten Schwarz¬
spanierhof, Schubert in den Weingärten draußen, Brahms im Stadtpark.
Vergangen, unverlierbar. Noch ziehen die Schwäne unter den grünen Weiden¬
ruten des Stadtparks. Noch spielen sie zu Füßen des marmornen Grill¬
parzer, die kleinen „Jordans“, wie Hofmannsthal mir einmal die Spielkinder
im Volksgarten genannt. Aber wahre dich, Wien. Wahre Dich. Verlasse
dich nicht auf die Maitage, die von den Bergen kommen — halte dich
selbst auch ehrlich für sie bereit. Amerikanisiere dich nicht, kulturfeste,
vielgeliebte — du brauchst nicht, was Berlin muß. Immer wieder höre ich
die Sphärenklänge Schuberts über dich hinziehen, das Schreiten und abend¬
liche Singen der Burschen in der C-Dur. Immer wieder fürchte ich, sie
bei einer Rückkehr einmal verstummt zu finden. Du hast einen großen
Dichter noch, der dein Erbe wahrt, dein unersetzliches Erbe. Dichter sind
auch mahnende Propheten. Arthur Schnitzler ist es nicht wie Ludwig
Anzengruber, der euch vor Jahrzehnten sein herrlich rauhes Drama vom
„vierten Gebot“ an den Kopf warf. Das neue Gebot, das euch in feurigste
Erinnerung kommen mag, ein elftes vielleicht, umfaßt die zehn gesamt und
wird zu euch sprechen aus dem starken, hoheitsvollen, lieblichen Lebens¬
werke eines Wieners.
TERZINEN. VON OTTO KÖNIG.
Lebendige Stunden danken wir Dir viel,
Der Du wie keiner, Dichter dieser Stadt
Und ihrer Menschen warst. Das bunte Spie!
In ihren Gärten, Plätzen, Straßen hat
Noch keiner so gefangen und bezwungen,
Und keinem formte Schönheit sich zur Tat
Wie Dir, der einst das hohe Lied gesungen
Vom Mädel aus der Vorstadt, schlank und schlicht,
Erschütternd wie es keinem noch gelungen.
Ward dieser Ruhm, den Du erkämpftest, nicht
Zur schweren Last? Und leidest Du nicht sehr
Wenn man Dir heut vom süßen Mädel spricht?
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