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5oth and 55th Birthday box 39/2
Geschicke, die uns selbst berühren. Denn die Schnitzlerschen Menschen
bleiben nicht in die Seiten von Büchern gebannt: aus dem Leben geholt,
kehren sie dahin zurück, haben Sprache und Gebärde. Und wir lieben sie
darum so, weil wir fühlen: unsere Sprache, unsere Gebärde. Der Anatol
ist der und jener von uns, jedem rinnt ein Tropfen seiner flanierenden
Abenteuersucht im Blut, der Leutnant Gustl hat uns gestern erst die Treue
der Frauen in desolaten Farben gemalt, irgendwo am Wege wartet die
Anna Rosner unser und der nervöse Don Juan Hofreiter — Hand aufs
Herz, wir wollen uns bedenken, ob nicht manche seiner ungeklärten Leiden¬
schaften zutiefst in uns beschlossen sind.
Unvermerkt wird uns der Text einer verstaubten Literaturkastenvignette
laut: „Arthur Schnitzler — der Dichter des süßen Mädels“. Sie ist längst
überklebt, führt reichere und gewichtigere Titel. Dennoch. der Dichter des
süßen Mädels... Eine wundervolle Weichheit löst sich aus den Worten (was
die Nüchternen, denen Natur und Blick dieses ganz im Österreichischen
Wurzeinden fremd sind, in „Weichlichkeit“ mißdeuten), Anmut und Milde
menschlichen Verstehens. Als nehme man die Gewißheit aus ihnen: der
diese innige und rührende Gestalt schuf, hat Güte, allem Menschlichen ist
er verschwistert. Mag man in deutschen Landen immerhin vom „Inessen¬
tiellen des Menschen im Dichter“, von „Mensch und Dichter als inkompa¬
tiblen Faktoren, denen Relation schlechthin abzusprechen“, dozieren, uns
Jungen erscheint der größere Dichter, der der größere Mensch ist. Und
hinter den Werken dieses Dichters steht mild und gütig der Mensch auf..
Ein literarischer Grenzwächter hat einmal Schnitzlers Schaffen nach
Mativen abgesucht. „Liebe und Tod“ seien die vornehmlichsten Bestände
dieses Dichterränzels. „Welche Fülle!“ waren wir versucht auszurufen.
„Nur“, meinte der Grenzwächter enttäuscht. Es mute ein bischen eintönig
an, meine Herren, immer nur von Liebe und Tod zu hören. Es wären nicht
gerade allzu wichtige Dinge... Inessentialia sozusagen. Und da der Grenz¬
wächter es feststellte, flatterten die Inessentialia angstvoll in der großen
grauen Stube wie gefangene Vögel, denen der Käfig Gesang und Flügel
verdirbt. Und ein ganz Junger — heute weiß er schon von erstem Erfolg,
erster Niederlage — stürzte roten Kopfes vor, bis ganz zum Grenzwächter
hin und schrie mit einer von Erregung spitzen Stimme: „Und das. .. das
wagen Sie, Herr, wagen sie deutlich und überzeugt zu sagen... Diese
Ungeheuerlichkeiten ... Ahnen Sie denn, was es heißt, Liebe und Tode
Sie mit den Inessentialia?!... Wissen Sie, welches Unendliche auch nur
eines von beiden birgt? Daß es nichts Höheres und Reineres für einen Dichter
geben kann, daß, wer ihm die Herrschaft darüber bestätigt, ihm zugleich
das Königtum zuerkennt, weil —“ und hier bekam die spitze Stimme einen
kleinen impertinenten Nebenton — „weil Liebe und Tod das Wichtigste
sind! Essentialia sozusagen.“
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5oth and 55th Birthday box 39/2
Geschicke, die uns selbst berühren. Denn die Schnitzlerschen Menschen
bleiben nicht in die Seiten von Büchern gebannt: aus dem Leben geholt,
kehren sie dahin zurück, haben Sprache und Gebärde. Und wir lieben sie
darum so, weil wir fühlen: unsere Sprache, unsere Gebärde. Der Anatol
ist der und jener von uns, jedem rinnt ein Tropfen seiner flanierenden
Abenteuersucht im Blut, der Leutnant Gustl hat uns gestern erst die Treue
der Frauen in desolaten Farben gemalt, irgendwo am Wege wartet die
Anna Rosner unser und der nervöse Don Juan Hofreiter — Hand aufs
Herz, wir wollen uns bedenken, ob nicht manche seiner ungeklärten Leiden¬
schaften zutiefst in uns beschlossen sind.
Unvermerkt wird uns der Text einer verstaubten Literaturkastenvignette
laut: „Arthur Schnitzler — der Dichter des süßen Mädels“. Sie ist längst
überklebt, führt reichere und gewichtigere Titel. Dennoch. der Dichter des
süßen Mädels... Eine wundervolle Weichheit löst sich aus den Worten (was
die Nüchternen, denen Natur und Blick dieses ganz im Österreichischen
Wurzeinden fremd sind, in „Weichlichkeit“ mißdeuten), Anmut und Milde
menschlichen Verstehens. Als nehme man die Gewißheit aus ihnen: der
diese innige und rührende Gestalt schuf, hat Güte, allem Menschlichen ist
er verschwistert. Mag man in deutschen Landen immerhin vom „Inessen¬
tiellen des Menschen im Dichter“, von „Mensch und Dichter als inkompa¬
tiblen Faktoren, denen Relation schlechthin abzusprechen“, dozieren, uns
Jungen erscheint der größere Dichter, der der größere Mensch ist. Und
hinter den Werken dieses Dichters steht mild und gütig der Mensch auf..
Ein literarischer Grenzwächter hat einmal Schnitzlers Schaffen nach
Mativen abgesucht. „Liebe und Tod“ seien die vornehmlichsten Bestände
dieses Dichterränzels. „Welche Fülle!“ waren wir versucht auszurufen.
„Nur“, meinte der Grenzwächter enttäuscht. Es mute ein bischen eintönig
an, meine Herren, immer nur von Liebe und Tod zu hören. Es wären nicht
gerade allzu wichtige Dinge... Inessentialia sozusagen. Und da der Grenz¬
wächter es feststellte, flatterten die Inessentialia angstvoll in der großen
grauen Stube wie gefangene Vögel, denen der Käfig Gesang und Flügel
verdirbt. Und ein ganz Junger — heute weiß er schon von erstem Erfolg,
erster Niederlage — stürzte roten Kopfes vor, bis ganz zum Grenzwächter
hin und schrie mit einer von Erregung spitzen Stimme: „Und das. .. das
wagen Sie, Herr, wagen sie deutlich und überzeugt zu sagen... Diese
Ungeheuerlichkeiten ... Ahnen Sie denn, was es heißt, Liebe und Tode
Sie mit den Inessentialia?!... Wissen Sie, welches Unendliche auch nur
eines von beiden birgt? Daß es nichts Höheres und Reineres für einen Dichter
geben kann, daß, wer ihm die Herrschaft darüber bestätigt, ihm zugleich
das Königtum zuerkennt, weil —“ und hier bekam die spitze Stimme einen
kleinen impertinenten Nebenton — „weil Liebe und Tod das Wichtigste
sind! Essentialia sozusagen.“
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