VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 76

Soth and 55th Birthday box 39/2
Jugend und Unversehrtheit. Das kontrastiert jetzt sehr interessant
mit ersten Anzeichen des Alters. Wirklich, seit Alfons Daudet hat
kein europäischer Dichter so „interessant“ ausgesehen.
Schnitzler ist der Sohn eines berühmten Wiener Arztes. Er
stammt also mitten aus der wohlhabenden und intellektuellen
Bourgeoisie Wiens. Was Wunder, daß er als Jüngling ironisch
anfing? Die Anatolszenen, mit deneu Schnitzler vor etlichen und
zwanzig Jahren debütierte, strotzen von melancholisch=ironischer
Lebenserfahrung. Ein Reigen von eleganten, mondänen und pikanten
Frauenzimmern zieht an Anatole vorüber, er selbst sitzt in seiner Loge
und schickt jeder ein wehmütiges oder lächelndes Wort nach. Die
Anatolszenen bergen die Lebenserfahrung eines eleganten jungen
Herrn aus der guten Wiener Gesellschaft. Leichte Leidenschaften,
leichte Tragödien, leichte Melancholien. Anatols Rente bleibt unge¬
schmälert, sein Dasein gut konsolidiert. Aber nach all den kleinen
Abenteuern hat Schnitzler immer wieder den eigentlichen „Ruf des
Lebens“ vernommen. Er entledigte sich des Samtrocks ..
Aussehaltt auss FRLINER IAGBLATT
Da entstand die „Liebelei". Anatol geht auch noch durch dieses

wienerische Volksstück, aber Schnitzler klagt hier schon den liebenswür¬
vem:
digen Müßiggänger an und sein Herzeist bei der armen Christkne, die
en en er
die Liebelei eines Elegants mit der schlichten Einfalt eines rückhaltlos
schenkenden Herzens erwidert. Anatol, der im Duell erschossen wird,
ist im Unrecht, das arme süße Mädel avanciert zur tragischen Heldin.
frthur Schnitzler.
Von da an gibt es keine Identität mehr zwischen Anatol und
Schnitzler! Der Dichter ist seiner Umwelt entwachsen.
Zu seinem 50, Geburtstage (13. Bel-1912).
Dieses süße Mädel bedeutete Schnitzlers naturalistische Epoche.
[Nachdruck verboten.]
Von
Während Hauptmann zu Mutter Wolffen ging und Rose Bernd sah,
Stefan Grossmann (Wien).
hat Schnitzler die Romantik des Wiener Vorstadtmädels entdeckt. Man
hat von Schwind in Zusammenhang mit Schnitzler geredet. Nun, die
Ein Schulkamerad Schnitzlers erzählte mir: „In der Schule hat
Morgenstunde im Hause des Musikers Weyring, irgendwo in einem
ser meistens einen sehr schönen Samtanzug getragen.“ So soigniert,
alten Haus in Währing oder in der Josefstadt, kann so sauber und
mit einen. zart romantischen Anhauch, ein wienerischer Daudet, ist
hell verlaufen wie auf Schwinds berühmtem Bild; und das schlanke
Schnitzler bis zum fünfzigsten Geburtstag geblieben. Man kann sich
Mädchen, das sich dort zum Fenster hinauslehnt, ist vielleicht eine Ver¬
den milchweißen und rotblonden Buben vorstellen, der mit großen
wandte der Christine Weyring. Beängstigend, dvückend, quälend war
melancholischen, die Erfahrungen eines Jahrtausende alten Volkes
Schnitzlers Naturalismus nie: es war viel eher Daudetscher Zola¬
bergenden Augen dreinschaute, auch wenn man das Bild des reifen
scher Naturalismus; Schnitzler ist immer ein Naturalist im Samt¬
Arthur Schnitzler betrachtet. Seine bekannte Stirnlocke, ohne die
gewand.
man sich in Wien einen modernen Dichter gar nicht mehr vorstellen
Schnitzler selbst ist Arzt. Nicht zufällig geworden, sondern wohl
kann, ersetzt jetzt den Samtanzug. Es steckt in beiden eine delikat
auch aus innerem Beruf. Er geht an die Menschen mit dem ruhigen
beherrschte Freude an sich selbst, eine liebenswürdige stumme An¬
großen Auge des Untersuchers heran, er läßt sie sprechen und agieren,
frage: Finden Sie mich interessant?
indes er sie im Stillen diagnosziert. Er hat die psychologische Be¬
Etwas Kindisches] Ernst=Fragendes, Großäugiges, auch ein bißchen
dächtigkeit, aber auch die letzte Unerbittlichkeit des Erkennenden; er ist
1 Pausbäckigkeit ist Schnitzlers Gesicht geblieben, lautex Anzeichen von
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