VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 92

50th and 55th Birthdan box 39/2
1912. Nr. 41
Über Land und Meer
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Otto Ernst, geb. 7. Oktober 1862
(Phot. A. Matzdorff, Berlin)
Der fünfzigste Geburtstag
Gerhart Hauptmann, geb. 15. November 1862
(Phot. Aura Hertwig, Charlottenburg)
Jas Jahr 1862 hat der deutschen Literatur
T eine Reihe von Schriftsteliern geschenkt, denen
daß die Dichter durch ihre Werke geehrt werden
es vergönnt war, ihre Namen durch mannig¬
sollen. Die Jubilare sind — mit Ausnahme Jo¬
fache Strömungen und künstlerische Umwälzungen
hannes Schlafs, der seit längerer Zeit vorwiegend
hnit starkem und gutem Klang hindurchzutragen.
den Roman, die Novelle und den Essay pflegt —
In diesem Jahre, in dem die bekannten sieben ihr
sämtlich Dramatiker. So sollen denn die deut¬
ffünfzigstes Lebensjahr vollenden, soll die Nation sich
schen Bühnen dem deutschen Publikum ihre Schöp¬
dieses Besitzes lebhafter bewußt werden als sonst.
fungen in mustergültigen Aufführungen gegen
Der Lyriker Stephan Zweig hat zuerst auf dieses
mäßiges Eintrittsgeld spielen. Und die Nation
Jubeljahr deutschen Schrifttums hingewiesen und
soll im Schauen und Genießen dankbar fühlen,
gefordert, daß der Stolz und die Freude an ihrem
daß ihm ein Jahr eine Auswahl solcher tüchtiger
Kerle auf einmal beschert hat.
Schaffen nicht in Jubiläumsartikeln unsrer reich¬
Es wäre gut, wenn dieser seltsame Zufall überall
ich 4000 Zeitungen kümmerlich versickern, sondern
noch zu einer andern Einsicht bekehrte. Wenn wir
die Geburtstagskinder heute gleichzeitig beglück¬
wünschen —
den gemütlich=humorvollen Otto
Ernst den geistreichen, maliziösen und form¬
gewandten Ludwig Fulda, den grüblerischen,
weichen Wiener Arthur Schnitzler, den
tiefsinnigen, Menschenschicksale formenden Ger¬
hart Hauptmann, den empfindsamen
Bildner unmerkbarer Stimmungen, Johannes
Schlaf, den derben, mutigen Kämpfer Mar
Dreyer und Wilhelm Meyer=Förster,
den Verfasser des erfolgreichsten Theaterstücks der
wenn wir
letzten Jahrzehnte, „Alt=Heidelberg“
sie so nebeneinander sehen, manch einen abgrund¬
tief getrennt vom andern durch sein Menschentum
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Ludwig Fulda, geb. 15. Juli 1862
(Phot. A. Matzdorff, Berlin)
und seine künstlerische Art, so wird uns klar, wie
gleichgültig gegenüber der großen Allmutter Kunst,
die im Strome der Zeit immer die gleiche bleibt
und trüben Augen doch immer eine wechselnde
scheint, die „künstlerischen Theorien“, die große Mehr¬
zahl der „literarischen Revolutionen" sind. Wie nach
der Bibel in des Herrgotts Hause, so sind in des
Okeanos tönenden Gärten viele Wohnungen. Der
Inhalt dieser Welt bleibt immer der gleiche. Ihn
stärker, tiefer, größer im eigenartigen Ich zu fühlen,
heißt Künstler sein. Und immer wird es sich wieder¬
holen, daß die Jugend, die selbst die Welt umzu¬
stülpen meint, alt wird und dann eben diese Welt,
weil sie durch andre Jugend wieder ein bißchen
anders geworden ist, wie Hebbels Meister Anton
nicht mehr versteht.
Karlernst Knatz
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