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Das süße mädel.
W. Wien, im Mai.
Es stammt vom Gretchen ab, wenn auch manche Züge
Auf eine nahe Verwandtschaft mit dem Klärchen und auch
mit der Luise Millerin hinweisen. Aber für Wien ist
der Typus von Arthur Schnitzler ein für allemal
seinen fünfzigsten
festgelegt worden. Im=iesen
gseing
Geburtstag begeht, mag es am Platze seint,
populärste Figur, über das Wiener „süße Mädel“ zu sagen,
dessen Namen allerdings Wolzogen geprägt hat. Im
„Anatol“ jener Sammlung lebensprühender Dialoge, stellt
der Dichter das süße Mädel in beabsichtigten Gegensatz zur
Dame der vürgerlichen Gesellschaft, die ihren Herzens¬
neigungen gern gefolgt wäre, wenn sie den Mut aufgebracht
hätte. Das „süße Mädel“ aber, das aus der Enge eines
dürftigen Haushaltes kommt, den es gewiß als Ladenmamsell
oder Kontoristin mit bestreiten hilft, hat diesen M### — oder
— ganz wie man will.
diesen Leichtsinn
Dem süßen Mädel sitzt die nstillbare Sehnsucht nach
Liebe, mag sie auch vergänglich sein wie die Schönheit eines
Maisonntags im Wienerwald, tief im warmen Herzen; si
fragt nicht nach Schmuck, Toiletten oder gar Automobih,
und gänzlich fern liegt ihr der Wunsch nach einer eigenen
Wohnung, dem Ideal ihrer Pariser Kollegin. Wos sie
von dem Gefährten ihrer blühenden Tage verlangt, das ist
Liebe und wieder nur Liebe. Tief beglückt ist sie, wenn
sie an seinem Arme über biumige Frühlingswiesen streifen
kann, und führt er“ sie des Abends in ein bescheidenes Gast¬
haus, so wird sie auf der Speisekarte gewiß gleich unte
nachsehen, wo die billigen Speisen verzeichnet sind. Daß
„er“, der einer höheren Gesellschaftsklasse entstammt, Offizier
ist oder Beamter, Doktor oder wenigstens Student in späteren
Seinestern, sie niemals heiraten wird, das weiß sie. Aber
sie weiß auch, daß die nachsichtige Auffassung ihres Kreises
ein Gretchenschicksal nicht befürchten läßt. Will sie nachher
noch heiraten, so findet sich immer ein Gevatter Schneiden
oder Handschuhmacher, der ihr das nicht weiter nachträgt,
worüber nach Hebbels strengerer norodeutscher Auffassung
„kein Mann hinwegkommt“. Ist Egmont von der Szene
getreten, so nimmt Brackenburg freundwillig seine Stelle
ein. Im Elternhause wird die „Bekanntschaft“ freilich nicht
gern gesehen, aber oft als etwas Unvermeidliches hinge¬
nommen. Keineswegs braucht das süße Mädel mit dem Ver¬
stoßenwerden zu rechnen. „Alles versteh'n, heißt alles ver¬
zeih'n“ und die Mütter der Mizzi oder der Josefin hat
wohl im Laufe der eintönigen kleinburgerlichen Chejahre die
kurzen Freuden ihrer Jugeno nicht so vollständig vergessen,
um sie ihrer Tochter als Todsünden anzukreiden. Seitener
findet sich der Väter drein.
Indes hat der Begriff des süßen Mädels, sobald er
us dem engen Kreise der Literatur heraustrat und volks¬
tümlich wurde, seinen Charakter sehr verändert. Das Wiener
sü. Gechenl Taste Wr
Anhr fa¬
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Das süße mädel.
W. Wien, im Mai.
Es stammt vom Gretchen ab, wenn auch manche Züge
Auf eine nahe Verwandtschaft mit dem Klärchen und auch
mit der Luise Millerin hinweisen. Aber für Wien ist
der Typus von Arthur Schnitzler ein für allemal
seinen fünfzigsten
festgelegt worden. Im=iesen
gseing
Geburtstag begeht, mag es am Platze seint,
populärste Figur, über das Wiener „süße Mädel“ zu sagen,
dessen Namen allerdings Wolzogen geprägt hat. Im
„Anatol“ jener Sammlung lebensprühender Dialoge, stellt
der Dichter das süße Mädel in beabsichtigten Gegensatz zur
Dame der vürgerlichen Gesellschaft, die ihren Herzens¬
neigungen gern gefolgt wäre, wenn sie den Mut aufgebracht
hätte. Das „süße Mädel“ aber, das aus der Enge eines
dürftigen Haushaltes kommt, den es gewiß als Ladenmamsell
oder Kontoristin mit bestreiten hilft, hat diesen M### — oder
— ganz wie man will.
diesen Leichtsinn
Dem süßen Mädel sitzt die nstillbare Sehnsucht nach
Liebe, mag sie auch vergänglich sein wie die Schönheit eines
Maisonntags im Wienerwald, tief im warmen Herzen; si
fragt nicht nach Schmuck, Toiletten oder gar Automobih,
und gänzlich fern liegt ihr der Wunsch nach einer eigenen
Wohnung, dem Ideal ihrer Pariser Kollegin. Wos sie
von dem Gefährten ihrer blühenden Tage verlangt, das ist
Liebe und wieder nur Liebe. Tief beglückt ist sie, wenn
sie an seinem Arme über biumige Frühlingswiesen streifen
kann, und führt er“ sie des Abends in ein bescheidenes Gast¬
haus, so wird sie auf der Speisekarte gewiß gleich unte
nachsehen, wo die billigen Speisen verzeichnet sind. Daß
„er“, der einer höheren Gesellschaftsklasse entstammt, Offizier
ist oder Beamter, Doktor oder wenigstens Student in späteren
Seinestern, sie niemals heiraten wird, das weiß sie. Aber
sie weiß auch, daß die nachsichtige Auffassung ihres Kreises
ein Gretchenschicksal nicht befürchten läßt. Will sie nachher
noch heiraten, so findet sich immer ein Gevatter Schneiden
oder Handschuhmacher, der ihr das nicht weiter nachträgt,
worüber nach Hebbels strengerer norodeutscher Auffassung
„kein Mann hinwegkommt“. Ist Egmont von der Szene
getreten, so nimmt Brackenburg freundwillig seine Stelle
ein. Im Elternhause wird die „Bekanntschaft“ freilich nicht
gern gesehen, aber oft als etwas Unvermeidliches hinge¬
nommen. Keineswegs braucht das süße Mädel mit dem Ver¬
stoßenwerden zu rechnen. „Alles versteh'n, heißt alles ver¬
zeih'n“ und die Mütter der Mizzi oder der Josefin hat
wohl im Laufe der eintönigen kleinburgerlichen Chejahre die
kurzen Freuden ihrer Jugeno nicht so vollständig vergessen,
um sie ihrer Tochter als Todsünden anzukreiden. Seitener
findet sich der Väter drein.
Indes hat der Begriff des süßen Mädels, sobald er
us dem engen Kreise der Literatur heraustrat und volks¬
tümlich wurde, seinen Charakter sehr verändert. Das Wiener
sü. Gechenl Taste Wr
Anhr fa¬