VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 127

50th and 55th Birthdar
Artur Schnitzler.
Unser Wiener Korrespondent schreibt uns:
Artur Schnitzler wirklich schon Fünfzig?
Wenn's nicht verbürgt wäre und die allergetreuesten
Biographen des liebenswürdigen Wiener Boeten es
nicht authentisch verzeichnet hatten, müßte man das
für ein Märchen halten, denn nichts an Schnitzler,
weder in seiner frischen Schaffenskraft, noch in seiner
äußeren Erscheinung deutet darauf hin, daß er diesen
Zenithpunkt erreicht hat. Und doch: Schnitzler erst
Fünfzig? Zieht man die Bilanz seines bisherigen
Schaffens, untersucht man namentlich seine Produktion
in den letzten Jahren kritisch, so würde man glauben,
daß die abgeklärte Weisheit eines viel längeren
Lebens sich da kundgiebt. Artur Schnitzler ist seiner¬
zeit der Begründer und durch eine geraume Epoche
der Führer der sogenannten Jungwiener Schule ge¬
wesen. Er ist aber dann seine eigenen Wege gegangen
und mit der sogenannten Jungwiener Schule
von heute hat er eigentlich nichts mehr gemein. Er
ist einer von den wenigen Neidlosen, einer von denen,
die, gleichwie Hermann Bahr, iungen Talenten nicht
bloß mit freundlichem Zuspruch sich zuneigen, sondern
ihnen auch die Wege ebnen helfen. Schnitzler ist,
so wenig im engeren Sinne Lokales auch seine Werke
an sich haben, doch ein echter Wiener Poet. Die
Psyche seiner Gestalten ist von besonders fesselndem
Reiz, und man wird kaum einen von unserer neueren
großen deutschen Bühnendichtern zu nennen vermögen,
der Schnitzler in der Psychologie seiner Figuren über¬
legen wäre. Dies rührt vielleicht daher, daß Artur
Schnitzler durch die harte Schule des Mediziners ge¬
gangen ist. Er hat auf dem Seziertisch sozusagen das
Innere des Menschen kennen gelernt, und nicht wenig
zu seiner seelischen Erforschung mag die ärztliche Ab¬
nahme der Beichten bei der großen Zahl seiner
Patienten beigetragen haben.
Das Sterben hat keiner vor Schnitzler so ergreifend,
so wahr, so menschlisch schön geschildert. Die Wiener,
namentlich aber die Wienerinnen, schätzen Artur
Schnitzler als den großen Sänger der Liebe,
der Liebe mit all' ihren Abstufungen, mit ihren süßen
Reizen und ihren herben Schmerzen. Mit leichter
Aquarellfarbe hub er an, als er seine „Anatol“=
Szenen schuf, und ganz realistisch, um nicht zu sagen
naturalistisch war er im „Reigen“ — diesem Buch,
das er allerdings nicht hätte der großen Oeffentlich¬
keit übermitteln sollen, die nur das Sinnliche
daraus nahm und nicht die Absicht des Dichters ver¬
stand. Sein chef d’oeuvre aber ist „Liebelei“ ge¬
blieben, diese packende Lebensschilderung, diese grandiose
Wiedergestaltung eines Menschenschicksals. Die
Christine der „Liebelei“ wird immerdar als eine der
reinsten und tiefsten Schöpfungen der zeitgenössischen
Literatur, speziell der Wiener Bühnendichtkunst an¬
gesehen werden.
Ein Wahrheitssucher und ein Wahrheitsfinder, hat
Artur Schnitzler niemals die feinen ästhetischen Grenz¬
linien verlassen, in seinem Denken und Schaffen, in
der Verfolgung seiner Ziele, ist er immer lauter und
vornehm geblieben. Nicht das sexuelle Moment in
der Ehe, sondern die geistige Zusammen¬
gehörigkeit zwischen Mann und Frau, zwischen
Ehemann und Eheweib beschäftigt ihn in seinen
Werken: als Muster dieser Gattung können „Zwischen¬
spiel“ und „Das weite Land“ gelten. Nicht so scharf¬
gründig und nicht zu so schweren Konsequenzen ge¬
langend wie Ibsen, hat Artur Schnitzler doch manches
mit dem großen nordischen Geistesrecken gemein.
An beste österreichische Ueberlieferung anknüpfend, er¬
füllt von wahrer, aufrichtiger Liebe zur Menschheit,
schafft Artur Schnitzler wirklich nur aus tiefem
Empfinden und innerer Ueberzeugung heraus und hat
niemals auch nur einen Satz sogenannter billiger
Marktware geschrieben.
Der fünfzigjährige und doch so jugendfrische Dichter
hat eine große andächtige, nicht bloß numerisch,
sondern auch qualitativ überaus starke Gemeinde in
Wien, die es sich angelegen sein lassen wird, das er¬
reichte halbjahrhundertste Lebensjahr ihres Apostels
S. L.
würdig zu begehen.
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ch den damals erschienenen „Schleier
Persönliches über Artur Schnitzler
Beatrice“ bewundernd las und besond
schöne Stellen angestrichen hatte, nahm er mir
Zu seinem 50. Geburtstage
Band aus der Hand und blätterte in ihm.
Ahh
Von Hermine Hauel
lächelie er zustimmend und fortan plauderten
über seine Arbeiten, wie es ihm und mir belie
* Ich lernte Schnitzler in Ischl kennen, wo er
Die Familie Schnitzler ist eine Aerztedyna
früher gern den Sommer verbrachte, er war da¬
Der Vater war eine bekannte Kapazität, der äl
mals 35 Jahre alt und hatte sich vor allem durch
Sohn zählt zu den berühmtesten Chirurgen Wie
„Anatol“ und „Liebelei“ einen Namen ge¬
die einzige Schwester vermählte sich mit e
macht. Die Frauen interessierten sich sehr für
Arzt. Auch Artur Schnitzler wählte die n
den Schilderer der eleganten Liaisons, den Schöp¬
zinische Lapfbahn, doch ist er wohl immer m
fer des Süßen Mädels, sie meinten, er sei ein
Künstler gewesen, und das viele Traurige, H
Verführer und Lebemann voll geheimnissüßer
liche und Krankhafte, das er kennen lernte,
Erlebnisse. Ich glaube nicht, daß er jemals zu
ihn bedrückt. Er sagte, der Einblick in men
den Genießenden und Eroberernaturen zählte. Ihm
liches Elend habe ihm viel Lebensfreude ger
fehlte die Naivität und kritiklose Unbefangenheit,
und er müsse nun bei allen Leuten etwas Krat
er war stets ein Denker, ein Grübler, satirischer
suchen; anderseits hat gewiß sein Arztberuf sei
Melancholiker, und das Leben hat ihm gewiß mehr
Blick für die Tiefen geschärft. An seine Künst
wehmütig erkenntnisreiche, als übermütig frohe
mission glaubend, hat er schon vor dem Erfolg
Stunden gebracht.
Karriere vernachlässigt, nur einige Privatgra
Damals glaubte er nicht an die weibliche Treue
patienten behandelt und sich der Dichtkunst hit
und Verläßlichkeit, er war sehr mißtrauischer Na¬
geben.
tur und sah vor allem in der Frau das verant¬
Neben seiner täglichen, angestrengten,
wortungslose Triebwesen, das jedem Impulse der
stellerischen Arbeit bildet er sich weiter, liest
unruhigen Sinne und der schweifenden Phantasie
und lernt immer wieder an Goethe, Keller
gehorcht. Auch schilderte er mehr das Weibchen
anderen Meistern des Stils. Mit Vorliebe
als das Weib und er mag wohl gerade bei einem
trieb er damals in der Jahrhundertwende hi
Teil der Wienerianen mit ihrem südländischen
rische Studien, vertiefte sich in die Zeit der it
Temperament recht haben. Als wahren, uneigen¬
nischen Renaissance, als er den „Schleier
nützigen Liebesbeweis der Hingabe ließ er eigent¬
Beatrice“ schuf, und plante an einem großen
lich nur das Kind gelten und die freiwillige Dul¬
schichtlichen Werke, vielleicht unbewußt, schon
derschaft der unehelichen Mutter.
dem „Jungen Medardus“ der im I#
Er rühmte die Herzlichkeit und Wärme des Wie¬
1910 das Burgtheater, das die „Beatrice“
ner Vorstadtmädels, solch schlichter Naturen, wie
lehnt, erobern sollte. Er wollte nicht nur als
er sie in der „Liebelei“ geschildert, und war auf
Dichter der Liebe und des Süßen Mädels gel
die halbgebildeten Frauen der Gesellschaft schlecht
und, vierzig Jahre alt, sagte er: „Ich fühle m
zu sprechen. Eher schüchtern und zurückhaltend.
beste Zeit vor mir, ich wage mich jetzt auf we
fast ungesellig und durchaus nicht Salonheld, gab
historisches Gebiet!“ Der in der französi
er sich im Gespräch nicht unbefangen hin, sondern
Revolution spielende Einakter „Der g
beohachtete sich selbst und andere. Wie Lenbach
Kakadu“ gehört zu seinen Lieblingsschöpfun
während einer Unterhaltung ausrufen konnte:
ein genialer Einfall, in drei Tagn beinahe
„Bleiben Sie still da die Linie will ich festhalten,
Korrektur vollendet — wie schade, aß er so se
diesen Lichtreflex!“ so sucht der Dichter in den
mehr auf dem Spielplan erscheint!
Zügen des Charakters was der Maler in der
Schnitzler wäre kein Künstler. kein Sehn
äußeren Form erforscht.
tiger, Unbefriedigter, wenn er nicht das ersen
Nichts war ihm unangenehmer als die Ge¬
spräche der Modedamen über Literatur im all= was er nicht besitzt, und so sprach er oft davon,
er lieher ein eleganter, schneidiger Herrire
gemeinen und seine Werke im speziellen, da konnte
sein möchte, mit viel Muskelkraft und wenig D
der sonst Höfliche unnahbar werden und kurz ab¬
vermögen, der das Leben unbefangen genießt.
brechen. Ich hielt mich natürlich auch an sein
dem schöner Frauen Gunst holder lächelt, als
Gebot und sprach nicht über seine Arbeit, und
als er wir dann einige seiner Bücher schenkte und Dichter. Gewiß würde er nicht ernstlich tauf