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60th Birthday
achtete und menschlich liebte. Er hat sich in dem kritischen
Zeitalter, als gerade die konstitutionelle Beleuchtung erst
die ganze staatliche Unmöglichkeit und tiefe Fäulnis der
alten Monarchie zutage brachte, nicht verösterreichern lassen.
Insofern ist der schwarz gelbe Konstitutionalismus doch
weniger seelenfängerisch als der gleichfärbige Absolutismus
gewesen: dieser machte aus Grillparzer und Halm öster¬
reichische Hofräte, jener ließ die Schnitzler und Bahr doch
als unabhängige Schriftsteller leben.
ver¬
Aber, ganz unangekränkelt von der
sinkenden österreichischen Welt ist wohl doch keiner
geblieben, der in ihr hauste. Etwas von ihrer
1 S
von ihrer Ueberreife, von ihrem
Müdigkeit,
leichten Moderparfüm, von ihrem herbstlichen Gemisch aus
dnee Frsie Prenses
Weinleseheiterkeit und Alterswehmut geht durch alle
Arbeiten Schnitzlers. Er hat niemals ein eigentliches
NEN
Tagesproblem klar und scharf behandelt. Selbst im
„Professor Bernhardi“, der mit Kühnheit die Streitfrage
zwischen Leibesarzt und Seelenhirt, zwischen Hygiene des
Sterbebetts und sakramentaler Strenge, zwischen Erdenrest
und Himmelsanfang aufwirft, selbst hier wird der Konflikt
nur scheinbar verschärft, in Wirklichkeit aber verwischt
15 MATW2
dadurch, daß der Mediziner, der dem Geistlichen entgegen¬
tritt, ein Jude ist. Die konfessionell Nebenfrage wirft die
religiös=politische Hauptfrage um. Das harte Durchfechten
leines Falles ist nicht Schnitzlers Sache. Aber ist je ein Fall
in Oesterreich hart durchgefochten worden? Im Dichter
spiegelt sich das Leben, rund und bunt und in Farben¬
Der Dichter einer untergegangenen Welt.
kompromissen mild abgetönt wie die österreichische Land¬
schaft — nicht von der logischen Starrheit eines Ibsen, die
Zu Artur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag.
an die scharfen Silhouetten norwegischer Felsenküsten er¬
Wien, 15. Mai.
innert. Wir sind nicht das Land des Entweder=Oder, wir
Die Monarchie ist nicht mehr, die Residenz ist nicht
sind das Land des Entweder und Oder. Bei uns ist alles
mehr, und die Wiener Gesellschaft, die sich durch Jahr¬
weich, abgeschliffen, ineinanderfließend, schnitzlerisch. Wie
hunderte um einen Thron von historischem Glanze gruppiert
Staat und Erde, politische Verwesung und überfeinerte
hhatte, ist in alle Winde zerstoben. Der Adel ist von der be¬
Gesellschaftskultur den poetischen Menschen beeinflussen,
wegten sozialen Oberfläche in stilleres Wasser hinabgetaucht,
zeigt sich in merkwürdiger Weise auch in dem Fehlen einer
das wohlhabende Bürgertum ist teils verarmt, teils hält es
markanten Aufstieglinie in Schnitzlers Entwicklung. Er ist
sich noch zur Not aufrecht, teils ist es weggestorben, aus¬
ein Fertiger bereits in seinen Anfängen. Die Worte, mit
gewandert, verschollen. Die Künstlerschaft, die mit diesen!
denen Christinens Vater in „Liebelei“ das Recht der Jugend
beiden Schichten in lebhaftem Verkehre gestanden und in
####en eine hedmtende gesellschaftliche Nolle gespielt hat auf Lebensfreude gegen die praktisch=nüchterne Moralität!
sich völlig verändert. An die Steue des liebenswürdigen der Frau Nachbarin vertritt, diese nachdenklich schönen
Worte, die man nie vergißt, wenn man sie einmal aus
Typus ist der Geschäftstypus getreten. Der Film erschlägt
Kutscheras Munde gehört hat — das ist so köstlich ausgereifte
das Theater, das Plakat erschlägt das Bild, der Regertanz
Lebensphilosophie, daß es der sechzigjährige Schnitzler nicht#
erschlägt die Wiener Musik. Ein neues Publikum sitzt in
besser treffen könnte, als es der dreißigjährige traf. Das
den Logen, kauft in den Auktionen und gibt, ohne guten
untergehende Oesterreich und in seinem Zentrum, in seiner
[Ton zu besitzen, den Ton an. Das ist nicht mehr Artur
Reichshauptstadt, das abwärtssteigende Wiener Bürgertum
Schnitzlers Welt. Er war der Dichter der Wiener Gesellschaft
mit den guten Formen, die es der Aristokratie entlehnt hat,
um die Jahrhundertwende, wie Bauernfeld ihr Dichter im
mit den Bildungs= und Kunstinteressen einer altvererbten
Vor= und Nachmärz gewesen ist. Nicht daß er sich bewußt
Kultur, mit der leichtgefälligen Sprache, in die von oben
in die Interessensphäre oder gar den Dienst einer bestimmten
das Fremdwort, von unten die Volksmundart hineinschlägt,
Schichte gestellt hätte. Aber er schrieb unbewußt aus ihrem
mit heiteren Sitten, freien Geschlechtsgewohnheiten und
Wesen heraus, aus ihren Lebens=, Denk= und Sprach¬
einer kapriziösen Denkart, die immer zwischen Selbstgefühl
gewohnheiten. Schnitzler war ja in der guten Wiener
und Resiqnation auf und niederschwankt: dieser Staat und
Gesellschaft aufgewachsen; als Sohn eines Arztes von
diese Stadt leben ein unbewußtes Leben in jeder Zeile, die
großem Rufe, der als Laryngologe auch viel mit den
Schnitzler geschrieben hat.
Künstlerkreisen des Theaters zu tun hatte. Die Menschen,
Ich habe ihn in jungen Jahren kennen gelernt, als wir
die in seinem Vaterhause aus und ein gingen, waren und
beide noch gleichmäßig stark literarisch interessiert waren.
blieben die Menschen seines Umganges und seiner Dichtung.
Er war als „der schöne Artur“ auf Bällen von jungen
Wie diese Welt bereits in eine historische Perspektive zu
Damen umworben, die für seine Dichterlocke schwärmten,
rücken beginnt, das merken wir Mitlebenden kaum, weil
und in anderen Nächten sah ich ihn in Weinstuben bei eis¬
wir selber noch mit tausend Fäden an einer Vergangenheit
gekühlter Flasche den müden Weltmann posieren. Er ist
festhängen, von der uns doch der klaffende Riß der Kriegs¬
seither wirklich ein müder Weltmann geworden. Ich wurde
zeit unwiederbringlich scheidet. Aber man braucht nur ain¬
in die politische Journalistik verschlagen, er ist bei der
mal die Figuren zum Beispiel des „Reigen“ anzusehen und
Literatur geblieben. Er hat das bessere Teil erwählt. Was
eine nach der anderen auf ihre innere und äußere Wahr¬
künstlerisch geschaffen wurde, ist ja doch das einzige was
scheinlichkeit zu prüfen — und man wird sofort erkennen,
vom allen Oesterreich bleibt und sich dauernd lebendig
daß sie alle, von der Dirne und dem Soldaten bis zum
erhalten wiro. Wir politischen Menschen der älteren öster¬
Grafen und der Schauspielerin, kein Gesicht von heute mehr
reichischen Generation haben auf Sand gebaut, und das
haben. Das mindert natürlich nicht ihren Wert. Das all¬
Kriegserdbeben hat unsere Lebensarbeit in den Grund ver¬
gemein Menschliche sondert sich von dem zeitlich und örtlich
sinken lassen. Schnitzlers wienerisch weiche, von Erotik
Bedingten, und jeder Teil hat seinen eigenen Reiz. Wie
durchblutete, von Ironie überschimmerte Stilanmut wird den
hier, um den Mittelpunkt der Sexualität gestellt, das
Untergang des politischen und sozialen Milieus, dem sie
Wienektum von Anno neunzehnhundert in allen seinen
entwuchs, lange überdauern. Edmund Wengraf.
sozialen Abstufungen sich moralisch entkleidet und seine
Lebenslügen und Lebenswahrheiten sehen läßt, das wird
noch in fernen Zeiten verständnisvolle Bewunderung finden.
Allerdings, wie sich dabei ästhetische und kulturhistorische
Betrachtung zueinander verhalten und gegeneinander ab¬
grenzen werden — wer kann das voraussagen?
Der Streit um die Frage, ob der „Reigen“ auf die
Bühne gehört, ist zur Parteisache gemacht worden. Ueber die
60th Birthday
achtete und menschlich liebte. Er hat sich in dem kritischen
Zeitalter, als gerade die konstitutionelle Beleuchtung erst
die ganze staatliche Unmöglichkeit und tiefe Fäulnis der
alten Monarchie zutage brachte, nicht verösterreichern lassen.
Insofern ist der schwarz gelbe Konstitutionalismus doch
weniger seelenfängerisch als der gleichfärbige Absolutismus
gewesen: dieser machte aus Grillparzer und Halm öster¬
reichische Hofräte, jener ließ die Schnitzler und Bahr doch
als unabhängige Schriftsteller leben.
ver¬
Aber, ganz unangekränkelt von der
sinkenden österreichischen Welt ist wohl doch keiner
geblieben, der in ihr hauste. Etwas von ihrer
1 S
von ihrer Ueberreife, von ihrem
Müdigkeit,
leichten Moderparfüm, von ihrem herbstlichen Gemisch aus
dnee Frsie Prenses
Weinleseheiterkeit und Alterswehmut geht durch alle
Arbeiten Schnitzlers. Er hat niemals ein eigentliches
NEN
Tagesproblem klar und scharf behandelt. Selbst im
„Professor Bernhardi“, der mit Kühnheit die Streitfrage
zwischen Leibesarzt und Seelenhirt, zwischen Hygiene des
Sterbebetts und sakramentaler Strenge, zwischen Erdenrest
und Himmelsanfang aufwirft, selbst hier wird der Konflikt
nur scheinbar verschärft, in Wirklichkeit aber verwischt
15 MATW2
dadurch, daß der Mediziner, der dem Geistlichen entgegen¬
tritt, ein Jude ist. Die konfessionell Nebenfrage wirft die
religiös=politische Hauptfrage um. Das harte Durchfechten
leines Falles ist nicht Schnitzlers Sache. Aber ist je ein Fall
in Oesterreich hart durchgefochten worden? Im Dichter
spiegelt sich das Leben, rund und bunt und in Farben¬
Der Dichter einer untergegangenen Welt.
kompromissen mild abgetönt wie die österreichische Land¬
schaft — nicht von der logischen Starrheit eines Ibsen, die
Zu Artur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag.
an die scharfen Silhouetten norwegischer Felsenküsten er¬
Wien, 15. Mai.
innert. Wir sind nicht das Land des Entweder=Oder, wir
Die Monarchie ist nicht mehr, die Residenz ist nicht
sind das Land des Entweder und Oder. Bei uns ist alles
mehr, und die Wiener Gesellschaft, die sich durch Jahr¬
weich, abgeschliffen, ineinanderfließend, schnitzlerisch. Wie
hunderte um einen Thron von historischem Glanze gruppiert
Staat und Erde, politische Verwesung und überfeinerte
hhatte, ist in alle Winde zerstoben. Der Adel ist von der be¬
Gesellschaftskultur den poetischen Menschen beeinflussen,
wegten sozialen Oberfläche in stilleres Wasser hinabgetaucht,
zeigt sich in merkwürdiger Weise auch in dem Fehlen einer
das wohlhabende Bürgertum ist teils verarmt, teils hält es
markanten Aufstieglinie in Schnitzlers Entwicklung. Er ist
sich noch zur Not aufrecht, teils ist es weggestorben, aus¬
ein Fertiger bereits in seinen Anfängen. Die Worte, mit
gewandert, verschollen. Die Künstlerschaft, die mit diesen!
denen Christinens Vater in „Liebelei“ das Recht der Jugend
beiden Schichten in lebhaftem Verkehre gestanden und in
####en eine hedmtende gesellschaftliche Nolle gespielt hat auf Lebensfreude gegen die praktisch=nüchterne Moralität!
sich völlig verändert. An die Steue des liebenswürdigen der Frau Nachbarin vertritt, diese nachdenklich schönen
Worte, die man nie vergißt, wenn man sie einmal aus
Typus ist der Geschäftstypus getreten. Der Film erschlägt
Kutscheras Munde gehört hat — das ist so köstlich ausgereifte
das Theater, das Plakat erschlägt das Bild, der Regertanz
Lebensphilosophie, daß es der sechzigjährige Schnitzler nicht#
erschlägt die Wiener Musik. Ein neues Publikum sitzt in
besser treffen könnte, als es der dreißigjährige traf. Das
den Logen, kauft in den Auktionen und gibt, ohne guten
untergehende Oesterreich und in seinem Zentrum, in seiner
[Ton zu besitzen, den Ton an. Das ist nicht mehr Artur
Reichshauptstadt, das abwärtssteigende Wiener Bürgertum
Schnitzlers Welt. Er war der Dichter der Wiener Gesellschaft
mit den guten Formen, die es der Aristokratie entlehnt hat,
um die Jahrhundertwende, wie Bauernfeld ihr Dichter im
mit den Bildungs= und Kunstinteressen einer altvererbten
Vor= und Nachmärz gewesen ist. Nicht daß er sich bewußt
Kultur, mit der leichtgefälligen Sprache, in die von oben
in die Interessensphäre oder gar den Dienst einer bestimmten
das Fremdwort, von unten die Volksmundart hineinschlägt,
Schichte gestellt hätte. Aber er schrieb unbewußt aus ihrem
mit heiteren Sitten, freien Geschlechtsgewohnheiten und
Wesen heraus, aus ihren Lebens=, Denk= und Sprach¬
einer kapriziösen Denkart, die immer zwischen Selbstgefühl
gewohnheiten. Schnitzler war ja in der guten Wiener
und Resiqnation auf und niederschwankt: dieser Staat und
Gesellschaft aufgewachsen; als Sohn eines Arztes von
diese Stadt leben ein unbewußtes Leben in jeder Zeile, die
großem Rufe, der als Laryngologe auch viel mit den
Schnitzler geschrieben hat.
Künstlerkreisen des Theaters zu tun hatte. Die Menschen,
Ich habe ihn in jungen Jahren kennen gelernt, als wir
die in seinem Vaterhause aus und ein gingen, waren und
beide noch gleichmäßig stark literarisch interessiert waren.
blieben die Menschen seines Umganges und seiner Dichtung.
Er war als „der schöne Artur“ auf Bällen von jungen
Wie diese Welt bereits in eine historische Perspektive zu
Damen umworben, die für seine Dichterlocke schwärmten,
rücken beginnt, das merken wir Mitlebenden kaum, weil
und in anderen Nächten sah ich ihn in Weinstuben bei eis¬
wir selber noch mit tausend Fäden an einer Vergangenheit
gekühlter Flasche den müden Weltmann posieren. Er ist
festhängen, von der uns doch der klaffende Riß der Kriegs¬
seither wirklich ein müder Weltmann geworden. Ich wurde
zeit unwiederbringlich scheidet. Aber man braucht nur ain¬
in die politische Journalistik verschlagen, er ist bei der
mal die Figuren zum Beispiel des „Reigen“ anzusehen und
Literatur geblieben. Er hat das bessere Teil erwählt. Was
eine nach der anderen auf ihre innere und äußere Wahr¬
künstlerisch geschaffen wurde, ist ja doch das einzige was
scheinlichkeit zu prüfen — und man wird sofort erkennen,
vom allen Oesterreich bleibt und sich dauernd lebendig
daß sie alle, von der Dirne und dem Soldaten bis zum
erhalten wiro. Wir politischen Menschen der älteren öster¬
Grafen und der Schauspielerin, kein Gesicht von heute mehr
reichischen Generation haben auf Sand gebaut, und das
haben. Das mindert natürlich nicht ihren Wert. Das all¬
Kriegserdbeben hat unsere Lebensarbeit in den Grund ver¬
gemein Menschliche sondert sich von dem zeitlich und örtlich
sinken lassen. Schnitzlers wienerisch weiche, von Erotik
Bedingten, und jeder Teil hat seinen eigenen Reiz. Wie
durchblutete, von Ironie überschimmerte Stilanmut wird den
hier, um den Mittelpunkt der Sexualität gestellt, das
Untergang des politischen und sozialen Milieus, dem sie
Wienektum von Anno neunzehnhundert in allen seinen
entwuchs, lange überdauern. Edmund Wengraf.
sozialen Abstufungen sich moralisch entkleidet und seine
Lebenslügen und Lebenswahrheiten sehen läßt, das wird
noch in fernen Zeiten verständnisvolle Bewunderung finden.
Allerdings, wie sich dabei ästhetische und kulturhistorische
Betrachtung zueinander verhalten und gegeneinander ab¬
grenzen werden — wer kann das voraussagen?
Der Streit um die Frage, ob der „Reigen“ auf die
Bühne gehört, ist zur Parteisache gemacht worden. Ueber die