Der Dichter r
Zu Artur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag.
Wien, 15. Mai.
Die Monarchie ist nicht mehr, die Residenz ist nicht
mehr, und die Wiener Gesellschaft, die sich durch Jahr¬
hunderte um einen Thron von historischem Glanze gruppiert
hatte, ist in alle Winde zerstoben. Der Adel ist von der be¬
wegten sozialen Oberfläche in stilleres Wser hinabgetaucht,
das wohlhabende Bürgertum ist teils verarmt, teils hält es
sich noch zur Not aufrecht, teils ist es weggestorben, aus¬
gewandert, verschollen. Die Künstlerschaft, die mit diesen
beiden Schichten in lebhaftem Verkehre gestanden und in
Witen eine bedeutende geiellschaftliche Rolle gespielt har
sich völlig verändert. An die Stelle des liebenswürdigen
Typus ist der Geschäftstypus getreten. Der Film erschlägt
das Theater, das Plakat erschlägt das Bild, der Regertanz
erschlägt die Wiener Musik. Ein neues Publikum sitzt in
den Logen, kauft in den Auktionen und gibt, ohne guten
Ton zu besitzen, den Ton an. Das ist nicht mehr Artur
Schnitzlers Welt. Er war der Dichter der Wiener Gesellschaft
um die Jahrhundertwende, wie Bauernfeld ihr Dichter im
Vor= und Nachmärz gewesen ist. Nicht daß er sich bewußt
in die Interessensphäre oder gar den Dienst einer bestimmten
Schichte gestellt hätte. Aber er schrieb unbewußt aus ihrem
Wesen heraus, aus ihren Lebens=, Denk= und Sprach¬
gewohnheiten. Schnitzler war ja in der guten Wiener
Gesellschaft aufgewachsen; als Sohn eines Arztes von
großem Rufe, der als Laryngologe auch viel mit den
Künstlerkreisen des Theaters zu tun hatte. Die Menschen,
die in seinem Vaterhause aus und ein gingen, waren und
blieben die Menschen seines Umganges und seiner Dichtung.
Wie diese Welt bereits in eine historische Perspektive zu
rücken beginnt, das merken wir Mitlebenden kaum, weil
wir selber noch mit tausend Fäden an einer Vergangenheit
festhängen, von der uns doch der klaffende Riß der Kriegs¬
zeit unwiederbringlich scheidet. Aber man braucht nur ein¬
mal die Figuren zum Beispiel des „Reigen“ anzusehen und
eine nach der anderen auf ihre innere und äußere Wahr¬
scheinlichkeit zu prüfen — und man wird sofort erkennen,
daß sie alle, von der Dirne und dem Soldaten bis zum
Grafen und der Schauspielerin, kein Gesicht von heute mehr
haben. Das mindert natürlich nicht ihren Wert. Das all¬
gemein Menschliche sondert sich von dem zeitlich und örtlich
Bedingten, und jeder Teil hat seinen eigenen Reiz. Wie
hier, um den Mittelpunkt der Sexualität gestellt, das
Wienertum von Anno neunzehnhundert in allen seinen
sozialen Abstufungen sich moralisch entkleidet und seine
Lebenslügen und Lebenswahrheiten sehen läßt, das wird
noch in fernen Zeiten verständnisvolle Bewunderung finden.
Allerdings, wie sich dabei ästhetische und kulturhistorische
Betrachtung zueinander verhalten und gegeneinander ab¬
grenzen werden — wer kann das voraussagen?
Der Streit um die Frage, ob der „Reigen“ auf die
Bühne gehört, ist zur Parteisache gemacht worden. Ueber die
„Sittlichkeit“ in der Kunst möchte ich weiter kein Wort
verlieren. Schnitzler ist kein Moralist, er ist aber auch gar
nicht berufen, es zu sein. Die Moral ist für den Dichter ein
Stück Leben wie die Unmoral, er ist zum Begreifen da,
das Gerichthalten überläßt er der irdischen oder himmlischen
Justiz. Es ist Schnitzler sehr wider Willen zugestoßen, in
eine Parteifehde zwischen Schwarz und Rot hineingezogen
zu werden. Er hat sich nie bemüht, die Gunst einer Partei
oder den Haß einer anderen zu verdienen, er hielt sich stets
von der Tagespolitik fern. Sie hatte in der Tat im alten
Oesterreich für ästhetisch veranlagte Naturen wenig An¬
ziehendes. Die verbissene Kleinlichkeit der nationalen
Parteikämpfe, das beständige Nachdrängen und Empor¬
kommen eines radikalen Schreiertums in allen Lagern, die
unbestrittene Vorherrschaft der Phrase, die Hoffnungs¬
losigkeit, die sich angesichts der Häufung unlösbarer
Probleme schließlich aller, selbst der besten Köpfe:
bemächtigte, erzeugte eine öffentliche Atmosphäre, in der es
nur ein tatunfähiges Raunzen und bittere Selbstverspottung,
aber keinen Antrieb zum Fortschritt und keinen Glauben
an die Zukunft mehr gab. Für feine und überlegene Geister
blieb als Abwehr gegen diese Umwelt nur eines übrig:
die Ironie. Ironie ist der unpathetische Männerstolz vor
Königsthronen, lächelndes Abschütteln des Milieuzwanges,
die Fähigkeit, ein unerfreuliches Zeitleben in sich auf¬
zunehmen und wieder abzustoßen und zwischen den Wider¬
wärtigkeiten draußen und der freien Persönlichkeit eine
Grenze zu ziehen, die nach außen wie ein Stachelzann und
nach innen wie eine blühende Hecke wirkt. Mit dieser
stechenden und zugleich blühenden Ironie ist Schnitzler un¬
versehrt aus dem Zusammenbruche eines Staatsbaues
kervorgegangen, dessen Mitbewohner er philosophisch ver¬
—
schaft — nicht von der logischen Startheit eines Ibsen, die
an die scharfen Silhouetten norwegischer Felsenküsten er¬
innert. Wir sind nicht das Land des Entweder=Oder, wir
sind das Land des Entweder und Oder. Bei uns ist alles
weich, abgeschliffen, ineinanderfließend, schnitzlerisch. Wie
Staat und Erde, politische Verwesung und überfeinerte
Gesellschaftskultur den poetischen Menschen berinflussen,
zeigt sich in merkwürdiger Weise auch in dem Fehlen einer
markanten Aufstieglinie in Schnitzlers Entwicklung. Er ist
ein Fertiger bereits in seinen Anfängen. Die Worte, mit
denen Christinens Vater in „Liebelei“ das Recht der Jugend
auf Lebensfreude gegen die praktisch=nüchterne Moralität
der Frau Nachbarin vertritt, diese nachdenklich schönen
Worte, die man nie vergißt, wenn man sie einmal aus
Kutscheras Munde gehört hat — das ist so köstlich ausgereifte
Lebensphilosophie, daß es der sechzigjährige Schnitzler nicht
besser treffen könnte, als es der dreißigjährige traf. Das
untergehende Oesterreich und in seinem Zentrum, in seiner
Reichshauptstadt, das abwärtssteigende Wiener Bürgertum
mit den guten Formen, die es der Aristokratie entlehnt hat,
mit den Bildungs= und Kunstinteressen einer altvererbten
Kultur, mit der leichtgefälligen Sprache, in die von oben
das Fremdwort, von unten die Volksmundart hineinschlägt,
mit heiteren Sitten, freien Geschlechtsgewohnheiten und
einer kapriziösen Denkart, die immer zwischen Selbstgefühl
und Resignation auf und niederschwankt: dieser Staat und
diese Stadt leben ein unbewußtes Leben in jeder Zeile, die
Schnitzler geschrieben hat.
Ich habe ihn in jungen Jahren kennen gelernt, als wir
beide noch gleichmäßig stark literarisch interessiert waren.
Er war als „der schöne Artur“ auf Bällen von jungen
Damen umworben, die für seine Dichterlocke schwärmten,
und in anderen Nächten sah ich ihn in Weinstuben bei eis¬
gekühlter Flasche den müden Weltmann posieren. Er ist
seither wirklich ein müder Weltmann geworden. Ich wurde
in die politische Journalistik verschlagen, er ist bei der
Literatur geblieben. Er hat das bessere Teil erwählt. Was
künstlerisch geschaffen wurde, ist ja doch das einzige, was
vom alten Oesterreich bleibt und sich dauernd lebendig
erhalten wird. Wir politischen Menschen der älteren öster¬
reichischen Generation haben auf Sand gebaut, und das
Kriegserdbeben hat unsere Lebensarbeit in den Grund ver¬
sinken lassen. Schnitzlers wienerisch weiche, von Erotik
durchblutete, von Ironie überschimmerte Stilanmut wird den
Untergang des politischen und sozialen Milieus, dem sie
entwuchs, lange überdauern. Edmund Wengraf.
Zu Artur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag.
Wien, 15. Mai.
Die Monarchie ist nicht mehr, die Residenz ist nicht
mehr, und die Wiener Gesellschaft, die sich durch Jahr¬
hunderte um einen Thron von historischem Glanze gruppiert
hatte, ist in alle Winde zerstoben. Der Adel ist von der be¬
wegten sozialen Oberfläche in stilleres Wser hinabgetaucht,
das wohlhabende Bürgertum ist teils verarmt, teils hält es
sich noch zur Not aufrecht, teils ist es weggestorben, aus¬
gewandert, verschollen. Die Künstlerschaft, die mit diesen
beiden Schichten in lebhaftem Verkehre gestanden und in
Witen eine bedeutende geiellschaftliche Rolle gespielt har
sich völlig verändert. An die Stelle des liebenswürdigen
Typus ist der Geschäftstypus getreten. Der Film erschlägt
das Theater, das Plakat erschlägt das Bild, der Regertanz
erschlägt die Wiener Musik. Ein neues Publikum sitzt in
den Logen, kauft in den Auktionen und gibt, ohne guten
Ton zu besitzen, den Ton an. Das ist nicht mehr Artur
Schnitzlers Welt. Er war der Dichter der Wiener Gesellschaft
um die Jahrhundertwende, wie Bauernfeld ihr Dichter im
Vor= und Nachmärz gewesen ist. Nicht daß er sich bewußt
in die Interessensphäre oder gar den Dienst einer bestimmten
Schichte gestellt hätte. Aber er schrieb unbewußt aus ihrem
Wesen heraus, aus ihren Lebens=, Denk= und Sprach¬
gewohnheiten. Schnitzler war ja in der guten Wiener
Gesellschaft aufgewachsen; als Sohn eines Arztes von
großem Rufe, der als Laryngologe auch viel mit den
Künstlerkreisen des Theaters zu tun hatte. Die Menschen,
die in seinem Vaterhause aus und ein gingen, waren und
blieben die Menschen seines Umganges und seiner Dichtung.
Wie diese Welt bereits in eine historische Perspektive zu
rücken beginnt, das merken wir Mitlebenden kaum, weil
wir selber noch mit tausend Fäden an einer Vergangenheit
festhängen, von der uns doch der klaffende Riß der Kriegs¬
zeit unwiederbringlich scheidet. Aber man braucht nur ein¬
mal die Figuren zum Beispiel des „Reigen“ anzusehen und
eine nach der anderen auf ihre innere und äußere Wahr¬
scheinlichkeit zu prüfen — und man wird sofort erkennen,
daß sie alle, von der Dirne und dem Soldaten bis zum
Grafen und der Schauspielerin, kein Gesicht von heute mehr
haben. Das mindert natürlich nicht ihren Wert. Das all¬
gemein Menschliche sondert sich von dem zeitlich und örtlich
Bedingten, und jeder Teil hat seinen eigenen Reiz. Wie
hier, um den Mittelpunkt der Sexualität gestellt, das
Wienertum von Anno neunzehnhundert in allen seinen
sozialen Abstufungen sich moralisch entkleidet und seine
Lebenslügen und Lebenswahrheiten sehen läßt, das wird
noch in fernen Zeiten verständnisvolle Bewunderung finden.
Allerdings, wie sich dabei ästhetische und kulturhistorische
Betrachtung zueinander verhalten und gegeneinander ab¬
grenzen werden — wer kann das voraussagen?
Der Streit um die Frage, ob der „Reigen“ auf die
Bühne gehört, ist zur Parteisache gemacht worden. Ueber die
„Sittlichkeit“ in der Kunst möchte ich weiter kein Wort
verlieren. Schnitzler ist kein Moralist, er ist aber auch gar
nicht berufen, es zu sein. Die Moral ist für den Dichter ein
Stück Leben wie die Unmoral, er ist zum Begreifen da,
das Gerichthalten überläßt er der irdischen oder himmlischen
Justiz. Es ist Schnitzler sehr wider Willen zugestoßen, in
eine Parteifehde zwischen Schwarz und Rot hineingezogen
zu werden. Er hat sich nie bemüht, die Gunst einer Partei
oder den Haß einer anderen zu verdienen, er hielt sich stets
von der Tagespolitik fern. Sie hatte in der Tat im alten
Oesterreich für ästhetisch veranlagte Naturen wenig An¬
ziehendes. Die verbissene Kleinlichkeit der nationalen
Parteikämpfe, das beständige Nachdrängen und Empor¬
kommen eines radikalen Schreiertums in allen Lagern, die
unbestrittene Vorherrschaft der Phrase, die Hoffnungs¬
losigkeit, die sich angesichts der Häufung unlösbarer
Probleme schließlich aller, selbst der besten Köpfe:
bemächtigte, erzeugte eine öffentliche Atmosphäre, in der es
nur ein tatunfähiges Raunzen und bittere Selbstverspottung,
aber keinen Antrieb zum Fortschritt und keinen Glauben
an die Zukunft mehr gab. Für feine und überlegene Geister
blieb als Abwehr gegen diese Umwelt nur eines übrig:
die Ironie. Ironie ist der unpathetische Männerstolz vor
Königsthronen, lächelndes Abschütteln des Milieuzwanges,
die Fähigkeit, ein unerfreuliches Zeitleben in sich auf¬
zunehmen und wieder abzustoßen und zwischen den Wider¬
wärtigkeiten draußen und der freien Persönlichkeit eine
Grenze zu ziehen, die nach außen wie ein Stachelzann und
nach innen wie eine blühende Hecke wirkt. Mit dieser
stechenden und zugleich blühenden Ironie ist Schnitzler un¬
versehrt aus dem Zusammenbruche eines Staatsbaues
kervorgegangen, dessen Mitbewohner er philosophisch ver¬
—
schaft — nicht von der logischen Startheit eines Ibsen, die
an die scharfen Silhouetten norwegischer Felsenküsten er¬
innert. Wir sind nicht das Land des Entweder=Oder, wir
sind das Land des Entweder und Oder. Bei uns ist alles
weich, abgeschliffen, ineinanderfließend, schnitzlerisch. Wie
Staat und Erde, politische Verwesung und überfeinerte
Gesellschaftskultur den poetischen Menschen berinflussen,
zeigt sich in merkwürdiger Weise auch in dem Fehlen einer
markanten Aufstieglinie in Schnitzlers Entwicklung. Er ist
ein Fertiger bereits in seinen Anfängen. Die Worte, mit
denen Christinens Vater in „Liebelei“ das Recht der Jugend
auf Lebensfreude gegen die praktisch=nüchterne Moralität
der Frau Nachbarin vertritt, diese nachdenklich schönen
Worte, die man nie vergißt, wenn man sie einmal aus
Kutscheras Munde gehört hat — das ist so köstlich ausgereifte
Lebensphilosophie, daß es der sechzigjährige Schnitzler nicht
besser treffen könnte, als es der dreißigjährige traf. Das
untergehende Oesterreich und in seinem Zentrum, in seiner
Reichshauptstadt, das abwärtssteigende Wiener Bürgertum
mit den guten Formen, die es der Aristokratie entlehnt hat,
mit den Bildungs= und Kunstinteressen einer altvererbten
Kultur, mit der leichtgefälligen Sprache, in die von oben
das Fremdwort, von unten die Volksmundart hineinschlägt,
mit heiteren Sitten, freien Geschlechtsgewohnheiten und
einer kapriziösen Denkart, die immer zwischen Selbstgefühl
und Resignation auf und niederschwankt: dieser Staat und
diese Stadt leben ein unbewußtes Leben in jeder Zeile, die
Schnitzler geschrieben hat.
Ich habe ihn in jungen Jahren kennen gelernt, als wir
beide noch gleichmäßig stark literarisch interessiert waren.
Er war als „der schöne Artur“ auf Bällen von jungen
Damen umworben, die für seine Dichterlocke schwärmten,
und in anderen Nächten sah ich ihn in Weinstuben bei eis¬
gekühlter Flasche den müden Weltmann posieren. Er ist
seither wirklich ein müder Weltmann geworden. Ich wurde
in die politische Journalistik verschlagen, er ist bei der
Literatur geblieben. Er hat das bessere Teil erwählt. Was
künstlerisch geschaffen wurde, ist ja doch das einzige, was
vom alten Oesterreich bleibt und sich dauernd lebendig
erhalten wird. Wir politischen Menschen der älteren öster¬
reichischen Generation haben auf Sand gebaut, und das
Kriegserdbeben hat unsere Lebensarbeit in den Grund ver¬
sinken lassen. Schnitzlers wienerisch weiche, von Erotik
durchblutete, von Ironie überschimmerte Stilanmut wird den
Untergang des politischen und sozialen Milieus, dem sie
entwuchs, lange überdauern. Edmund Wengraf.