VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 105

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Jeue Zuricher Zeitung.
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gesiandene Müdigkeit derer, die ins Innere der Dies ist ihr größter Schmerz: die Angst, nicht
Natur zu dringen verzweifeln. Er ist endlich jü= mehr zu sein, nicht mehr zu leben; und der „Ruf
Feuilleton.
des Lebens“, ihm gehorchen sie alle. Immer wieder
discher Abstammung, aus einer Generation, die an
erschöpft sich besonders der junge Schnitzler, in
Arthur Schnitzler, sein Wien und wir.
dem Erfolg ihrer Bemühungen um geistige Frei¬
Lebenspreis und Todeswehmut. Auch „Märchen¬
Zu des Dichtexs-60. Geburtstag, am 15. Mai.
heit verzweifeln mußte. Der österreichische Libe¬
welt“ ist ihm nur gut für Lebendige. Schuld und
Von Paul Stefan.
ralismus war, zuletzt völlig zahm, soeben verstor¬
Elend ist nicht das Schlimmfte, Leben, Leben allein
ben, es siegte, von „oben“ begünstigt oder gar ge¬
Ein Bildnis des zwanzigjährigen Dichters
der Güter höchstes.
wünscht, eine klägliche Reaktion, obendrein im
stcht vor mir; kaum also noch des Dichters, den
Leben ist Liebe und die höchste Liebe die der
Zeichen eines unernsten Antisemitismus von Be¬
wir heute verehren, ja kaum erst des werdenden
Geschlechter. Dieses Dichters Männer haben Muße
rufspolitikern, und wie ihm das alte Oesterreich
Arztes, als welcher Schnitzler begann. Noch fehlt
genug, ihrer Liebe zu leben: seine Frauen aber,
erlag, so war ihm die Jugendzeit Schnitzlers schon
der (längst ergraute) Bart, Haarschopf und Locke
obgleich häufig berufstätig, und dann zumeist
erlegen; eben damals war es auch, daß gerade die
deuten sich aber an, Weltfreude spricht aus einem
Künstlerinnen, leben eigentlich nur ihrer Liebe.
feineren Köpse unter den jüdischen Intellektuellen,
hellen Antlitz, nicht die edle Skepsis des Gereiften:
Liebe will ihre Rechte bis zur letzten Hingabe. Ihr
des rohen Tons und Treibens müde, von Staat
aber sonst ist es deutlich der gleiche Mensch, seines¬
strebt alles und alle zu in immerwährendem
und Stadt nichts mehr wissen wollten und, in
gleichen und einer südlichen Umwelt mit allen
„Reigen“. Kein Band hält gegen Liebe, und am
einer Art Verfolgungswahn, ins Menschlich=Sinn¬
Sinnen noch zugewandt.
wenigsten Ehe. Anderseits wahren oft gerade
liche flüchteten. Und das war Schnitzlers entschei¬
Das Bildnis spiegelt nur das gleiche Wesen
solche Frauen Treue, deren Wesen Wechsel zu be¬
dende Gegenwart: eine eng verknüpfte und ver¬
und ein im Wesen gleiches Werk. In der Tat, die
deuten scheint, und selbst manche „süße Mädel“, die
schlossene Gesellschaft, die sich in ihren kleinen und
verwirrende Fülle der Erscheinungen, wie sie einem
Botinnen zwischen jenem engeren Wien und der
doch ewigen Freuden und Schmerzen verbarg.
Meister des Zauberstabs und der erzählten Fabel
Vorstadt. Doch selbst da verirren sich manchmal
Erwägt man dies, so werden nicht nur die so
trtumhaft aufquoll und oft überlebendig sich ge¬
Gedanken und Träume (wir sind Freud schon sehr
häufig quälenden Erörterungen in dem großen,
staltete, sie dringt aus einer Wurzel, ja von einem
nahe!), und am Ende ist nichts mehr sicher, alles,
vielfach bewundernswerten Liebesroman „Der
Stamm. Das Geheimnis dieser Dichtung heißt
alles Spiel. Zweifel und Spiel: es ist das wieder¬
Weg ins Freie“ verständlich, sondern es ist wie
Wien. Ja, es ist sogar nur ein bescheiden=kleines
und wiederkehrende Komödienthema Schnitzlers,
durch einen magischen Kreis die Welt der Novellen
Wien, das hier beredtesten, unvergeßbaren Aus¬
von seinem Zauberer, Hypnotiseur, Psychoanaly¬
und Dramen Schnitzlers, diese eine Wiener Welt,
druck gewann.
tiker und Arzt Paracelsus besonders deutlich aus¬
zugleich umgrenzt und erschlossen. Alle ihre Men¬
Das vergangene, abgestorbene Wien einmal.
gesprochen („Wir spielen immer; wer es nicht
schen, häufg im Kostüm fremder Zeiten und mit
Aber nicht die Stadt der Kirchen und Paläste, wie
weiß, ist klug“). Und hier geht es nicht um einen
fremden, seltenen Namen bedacht, nehmen sich und
sie oft aus Hofmannsthals Wesen hervorleuchtet;
shakespearischen Maskenzug, sondern eben um „Ko¬
die Ihren so schwer, wie sie sich leicht zu nehmen
Schnitzlers Erbe und Heimat ist die minder be¬
mödie“. Keiner weiß, wann er Ernst macht, wann
scheinen. Sie genießen gern, aber zweifelnd, und
kannte Stadt der Gelehrten und Forscher, ja selbst
# mit ihm Ernst wird, keinem ist schließlich ein
sie zittern dennoch vor einem Ende dieses sicht¬
Kämpfer, und er hat von ihnen das scharse Wissen
Vorwurf selbst aus seinem Zwitterwesen zu
des Beopachters, aber auch die Müdigkeit, unein=] baren, für sie einzigen Lebens.