VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 108

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ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU¬
BERLIN SO. 16, RUNGESTR 22-24
Zeitung. Münchener Post
Adresse. München

Datum:
Freunden des neuen volkstümlichen Theaters dem Ewig¬
Menschlichen dieser feinen, meisterhaft ausgerundeten Ge¬
(Artur Schnitzler.
staltungen, so sehr sie von Haus aus auf ein bestimmtes
Zum 69. Geburtstag am 15. Mai 1922.
gesellschaftliches Niveau zugeschnitten sein mochten.
Deutschland ist nicht so reich an kennzeichnenden dichte¬
Es ist etwas durchaus Allgemeines an Zeitgeist — ge¬
rischen Gestaltern seiner Wesensart, daß wir den Gedenktag
wesen, müssen wir leider sagen —, was aus der Ironie und
Artur Schnitzlers übergehen könnten im Hinblick
aus der Anmut, aus der oft. grausamen Sachlichkeit und
auf sein Oesterreichertum. Ja gerade seine österreichische,
aus der Liebe von Schnitzlers dichterischer Eigenart auf sein
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spezifisch wienerische Bedingtheit ist es, vor der sich uns das
mitgehendes Publikum einwirkt. Er ist nicht in flügelmän¬
Gefühl aufdrängt einer innigen, durch politisch=geographische
nischer oder gar monumentaler Art, nicht wie Dostojewski¬
Grenzen unbeeinflußbaren Kulturgemeinschaft. Bei Licht be¬
sondern eher etwa wie Tschechow, einer von denen, die uns
sehen und außerhalb der Zeithypnose, die dabei ist, uns nur
mißtrauisch machten gegen die großen pathetischen Wort¬
noch aktivistisch bestrebte, willenhafte, ideenhafte Geistes¬
schwälle und uns dafür tiefer hineinhorchen lehrten ins
richtungen als eigentlich, als mitzählend wahrnehmen zu las¬
eigene Ich und in die Welt, in die wir so innig verflochten
en, ist dies wienerische Wesen sogar viel deutscher als das
sind, ohne sie je von etwas Grundsätzlichem, Pathetischem
des fieberhaft fortschrittpulsierenden Berlin von 1890 bis
her beherrschen zu können.
1913, Weimar und allem Besten, das wir je besessen haben,
Wer Schnitzler deshalb als zu skeptisch empfindet fürs
verwandter, südlicher, europäischer zugleich bei aller Heimat¬
Volk, als zu wenig handfest, zu wenig eingeschworen auf
irgendeine weltanschauliche oder ethische Formel, — er ist
lichkeit.
Schnitzler hat im Bühnenrahmen und in seinen Erzäh¬
dabei einer der gütigsten, der ärztlichesten Ethiker, die
lungen Menschen geschaffen, eine Wirklichkeit des Seelischen
die Feder geführt haben, — der vergißt, daß die Zeit, die die
arm
enthüllt, die es anderwärts nicht gibt, weder jenseits der
Leidenschaften gesteigert, die Nerven fein gemacht, die Seelen
Alpen, noch in Paris, noch in London, und die gleichwohl
erst verwirrt und dann vertieft hat, über alle, nicht nur
international verständlich bleibt, weil sie unmittelbar in die
über die Menschen einer bestimmten sozialen Schicht hin¬
Bereiche einer Innerlichkeit führt, die in irgendeiner lokalen
gegangen ist, daß der problematische, komplizierte und in der
Ausprägung jedem Kulturvolk früher oder später einmal zu¬
Ueberwindung dieser Lage nachdenklich, skeptisch gewordene
wachsen muß, bei dem auf altem, gutem Boden moderne
Seelenzustand unter mancherlei gesellschaftlicher Garderobe
Großstädte und moderne Nerven aufkamen.
zu finden ist, unter der teuren und unter der billigeren.
Man darf Schnitzler also nicht für eine Spezialität halten,
Wäre dem nicht so, so hätte man den verständnisvollen Bei¬
obwohl das ganze Wien um die Jahrhundertwende in seinem
fall eines Volksbühnenpublikums vor Schnitzlerschen Bühnen¬
Lebenswerk enthalten ist. Am allerwenigsten aber ist er der
werken niemals erlebt.
literarische Spezialist einer Gesellschaftsklasse, obwohl der
Die leeren Energetiker, die jetzt nach dem Zusammenbruch
Schnitzlersche Mensch, so Mann als Weib, so wenig wie
ihrer leer energetischen Welt auch in Kunst und Dichtung
irgendein anderer ohne ausgesprochen klassentypische Züge
nach befeuernden Parolen herumtappen, eben weil sie den
gezeichnet werden konnte. Gerade die innigste Verbindung
modernen Deutschen törichterweise für viel unkomplizierter,
des aktuellen, in einer ganz bestimmten Sphäre erlebten und
unskeptischer halten als er ist, finden in einer konstatierenden
beobachteten Falles mit dem allgemein Menschlichen, all¬
Begabung von der Art Schnitzlers natürlich immer den Deka¬
gemein Nacherlebbaren, dem intersozialen Element des Lebens
denten, verwechseln den Bestandsaufnehmer mit dem Tat¬
macht ja den Reiz dieser eben deshalb in keine der herkömm¬
sachenbestand, den er protokolliert. Das war der letzte Sinn
lichen Rubriken passenden Literatur aus, und so nähern sich
heute mit erwachendem Verständnis viele Tausende von des sinnlosen Geplärrs gegen den in Schnitzlers Lebenswerkin
ziemlich beiläufigen „Reigen". Ist in der Welt, die der
Wiener Menschenkenner und Dichter, kein Humanist zwar,
aber ein Freund alles Menschlichen, vor uns aufstellte, auch
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viel „fin de siecle“, vieles, was von den heute Jungen noch
auf Jahre hinaus gar nicht verstanden werden kann, so
wird doch das Beste Schnitzlers nicht an die Epoche gebunden

bleiben: Seine Feinfühligkeit, sein Wissen um die Seele,
seine Kultur, sein Wien sind trotz aller Krisen der Zeit
H. E.
unvergänglich, sind Weltwerte.