VII, Verschiedenes 3, 60ster Geburtstag, Seite 200

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1922. Wiener. Medizinische-Wochenschrift Nr. 20
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zugleich eine der liefsten Wurzeln der Tranik abgiht, ist diesen:
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Artur Schnitzler.
die letzten Endes unüberwindbare Einsamkeit des Einzelnen, und der
Am 15. Mai vollendet Dr. med, Artur Schnitzler sein Zwang zu den Anderen, der Notwendigkeit der Gemeinschaft des
160. Lebensjahr. Auch die Arzte und als deren Sprecher die „Wiener dieschlechts, der-Gesellschaft, menschlicher Beziehung überhaupt. Die
Medizinische, Wochenschrift“ wollen ihren Glückwünsch mit denzahl- Auflösung dieses grundsätzlichen und unaufheblichen Zwiespalles hleiht
reichen anderen vereinen.Es wäre schon die mehrweniger zufällige Tat-lpewige Aufgabe des Menschen. Aus den Losungsversuchen erwachsen
sache, daß ein berühmter-Dichter aus dem ärztlichen: Stande hervor-die meisten, wenn nicht sogar-letzten Endes alle, Konllikte des
Lebens. In gewissen Situationen, Charakteren, Haltungen drücken sich
gegangen ist, Aulaß genug. Aber hier spinnensich bedeutsamere, wesens¬
mäßige Zusammenhänge Daß der Dichter auch Arzt ist, findet in nun diese Grundzüge der Zwiespättigkeit schärfer aus als in anderen,
Schmitzlers Werken einen besonderen Ausdruck, Vielleichtwürde man, Solche Situationen sind jene, in eifen-die Notwendigkeit der Gemein¬
wühte manndieser Tatsache nicht, urteilen.dürfen, dieser Dichter hätte schaft oder die- Unerbittlichkeit der Einsamkeit mit zwingender Gewalt
auct Arzt sein können. Und das nicht, etwa deshalb, weil in seinenlsich aufdrängen: die Situalion der Liebe, die Situationedes Todes.
Ist aber mit den letzten Zeilen nicht gerade der Broblemen¬
Sebriften Probleme, die auch den Arzt beschäftigen, Situationen, die
auchedieser kennt; eindringlich dargestellt werden, und auch nicht kreis Schnitzler'scher Dichtung bezeichnet?, Fast, alle seine.Werke
darum, weil oftmals Arzte: liebevolle, Schilderung finden, sondern handeln irgendwo von Einsamkeit, davon, daß die Menschen letztlich
weil die ganze Art der Erfassung des Menschen irgendwie an den ihren Weg allein gehen, allein gelassen werden; davon, daß sie —
wieviel Gemeinschaft „mit andaren, wie innige sie auch gepllögen
Standpunkt des Arztes erinnert.
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Man wird sich fragen dürfen, wiesg es denn überhaupt komme, hahen mögen, schließlich im Tode allein, sind; davon,,wie sie verr
daß zwischen Kunst und Medizin so oft. nahe Bezielungen bestehen, suehen, in der Liebe, in allen erdenklichen Abwandlungen derselben,
Mancher, der als Arzt begonnen, hat sich der Kunst zugewendet sich zu einander zu finden, und, versagen; davon, wie sie sich und
und zahllose Arzte haben zu diesem oder jenem Zweig der Kunstl andere über alle fliese Rätsel, über alles dieses Mißlingen hinwegzu¬
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ein inniges Verhältnis. Es ist, wie bei Sprachwendungen oft, nichtfäuschen versuchen.
Verführt durch die Eleganz des Wörtes und eine gewisse Kühle
ohne lieferen Sinn, daß wir den Ausdruck: ärztliche Kunst gebrauchen,
der Rede, glauht man in Schnitzlers Schriften den. Auslluß einer
wenn auch dieses Wort zunächst eine Übersetzung von „ars. medici“
liebenswürdig-ironisierenden, skeptisch-betrachtenden Auffassung des
ist worin, in erster Linie mit „ars“ jedes Können bezeichnet jst.
Lebens zu sehen. Geht man Indes den Problemstellungen auf den
Und wenn die Tätigkeit des Arztes mit Recht eine Kunst im eigent¬
Grund, so findet man sie verwürzelt in den letzteh und tiefsten
lichen Verstande genannt werden darf, so darf es nicht wunder¬
Fragen des menschlichen Lebens. Natürlich nicht derart, als oh Hier
nehmen, daß derjenige; der, diese Kunst betreibt, auch anderen
in dialogischer oder epischer Form philösophische Fragen erörtert
Künsten pahesteht. Sind sie doch allesamt einander verwandt und
Künstlor ausübend oder empfänglich zumeist nicht nur auf einem würden; dies ist weder Aufgabe noch art des Künstlers, Aber die
ewigen Fragen des Lebens uns parädigmatisch vor Augen zu führen,
Kunstgehiete.

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eins.Das eben ist nun die Frage: Worin liegt das Künstlerische —ist er allein imstande.
Dieser Aufgabe wird der menschliche Gestalten und Schicksale
besser; Kunsthafte — in der Täligkeit des Arztes? Es trügt diese
formende Künstler nur gerecht, wenn iseine Figuren und verstänc¬
ein eigenartig zwiespältiges Angesicht. Denn sie ist auf der einen
lich werden, das heißt wenn er es vermag, die innere Notwendig.
Seite bestrebt, allgemeingültige Gesetze zu finden als Naturwissen¬
keit ihres Seins und Tuns einsichtig zut machen. Das kann gelingen
schaft,- und auf der anderen ist sie auf den Einzelfall in séiner Einzig¬
— es gibt viele Wege —, wenn er die“ geheimen-Triebkräfte sichtbär
keit und Einzigartigkeit eingestellt, auf die Erfassung des Individuellen.
Die Art aber, wie sie dieses Individuelle erfaßt, ist die der Kunst, macht, die im Menschén ihr Wesen ’hiaben. Aber- nichtvdurch Pine.
Nicht als ein Aggregat von Merkmalen oder als eine Summe von leere Konstruktioften, ’söndern int'lebendigen Gestälten, die für uns
Eigenschaften erscheint dem betrachtenden Blicke des Arztes der leben wenn wir das Werk aufnehmen, für den Künstler, da ter# sie
einzelne Menseh# er ist ihm ein Ganzes, das aus Teilen nicht auf- schuf.“ Die Lébendigkeit“ der Gestalten eines Künstwerkes ist indes
gebaut, in Beslandstücke nicht zerlegt, aus seinen Elementen nicht eine eigenartige, im gewissen Sifne-eine Überlebendigkeit, eben da¬
verstanden werden kann; so wenig ein musivisches Gemälde aus dem durch, daß in ihnen nicht nur das züfällige Einzelindividuum, son¬
Haufen Mosaiksteinchen verständlich wird, daraus es der Künstler dern, paradigmatisch dargestellt“das schlechthin Menschliche erscheint:
zusammensetzt. Und: so wenig die Erscheinung des Menschen Summe Die Art und Weise aber, in der solehe Darstellung geschieht, ist
ist, so wenig ist es sein Schicksal. Auch dieses ist keine bloße Reihe mannigfaltig bei den verschiedenen Künstlern. Die“ Psychologie
von Vorkommnissen, sondern eine sinnhaft zusammenhängende-Folge Schnitzlers nund ist vielfach die Psvöhelogie des Arztes, Jene¬
von Erlebnissen, das heißt von Momenten, die durch das Ganze des nämlich, die uns aus Anlage und Schitksah, aust eigenem Tun und¬
persönlichen Seins und Werdens ihre individuelle Bedeutung emp- außenbedingtem Geschehen ein Leben verstehen läßt, wie dem Arzt.
fangen. Ganz se erfaßt den Menschen die Kunst. Daß sie ihn darüber aus den gleichen Momenten Genese und Ablauf der Krankheit’durch¬
hinaus darstellt, ist ihre eigene Domäne. Die Kunst aber des Künstlers sichtig wird. Im besonderen: jene, mit welcher der Psychöpathologe
Ursache, Anlaß und Werden seelischer Veründerung Begreiste giahn
und die des Arztes wurzeln in derselben Grundstruktur dieses.spezi¬
Es tritt aber bei Schnitzler eine Seite stärk in den Vorder“:
lischen individifellen Verstehens de Menschen.
grund, die zwar ärztlichem Denken keineswegs fremd, #s## für
Der Arzt und der Künstler verstehen den Menschen, sein Tun
grundsätzlich bestimmend, in ihm äber-Hotwendigerweise .
und. sein Leiden. Anders, liefer freilich, als es jenes Wort vom „Alles
weniger ausgeprägt ist: der Gesichtspunkt- des Wertes, Nicht als ob
verstehen“ meint. Hier ist mehr bezeichnet als jenes mehr ober¬
seine Menschen mit den Eliquetten: gut und böse versehen würden¬
flächliche; ich verstehe, daß man so etwas tut. Hier heißt es: ver¬
oder ihnen Schuld angerechnet und Strafe auferlegt würde. Wie der¬
stehen, dan dieses eine Schicksal sich gerade so und nicht anders
gestaltet hat, aus dieser einen Persönlichkeit, aus ährer Einzigartig- Arzt nur Krankheiten, kennt Schnitzler-nur Schicksale. Aberl wie
der Arzt Krankheit nur an dem Kanon der Gesundheit beurteilt, so
keit heraus: in Erfassung des „individuellen Gesetzes“,
Es wäre der aber ein schlechter Künstler, und schlechter Arzt, gestaltet Schnitzler das Schicksal an der Norm der Eihik: Est
der es letztlich nicht vermöchte, doch über das Individuelle hinaus ist ein durchaus anderes, ob Ethik in diesem Sinne zur-Norm-wird,
zum Typischen, zum Allgemein-Menschlichen fortzuschreiten, In ge- auf die grundsätzlich Taten unds Erlebnisse bezogenverseheinen;
heimnisvoller Weise spricht sich das Uberindividuelle, das Schlechthin- oder ob ethische Bewertung aufdringlich in den Vordergrund ge¬
Allgemeine auch in der Besonderheit des Einzelnen aus. Das Indi- schoben wird. Dieses ist die Weise des Moralisten jene, unter
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viduum ist einzigartig und einmalig und doch zugleich paras anderem, die des Arztesi G#ane u
So sehem wir denn änssder Person des heute zu-Feiernden.
digmatisch.
Dieser — nahezu antinomischen — Struktur der Erfassung des den Arzt, der in der Gestaltung von Kunstwerken und durchesie
Menschen entsprechen merkwürdige Gegensätze in der konkreten über sich selbst hinausweisend uns Aufgaben und Anschauungen
Wirklichkeit menschlichen Lebens. Mehr vielleicht als anderswovor Augen führt, denen gerecht zu werden zwar'nicht dem Mediziner:
drückt sich hier die korrelative Bezogenheit zwischen dem Erfassen Vobliegt, wohl aber dem Arzte. Wir begrüßen in Dr. Artur Schmitzler
und seinem Gegenstand sinnfällig aus. Einer dieser Gegensätze, der Inicht nur den berühmten Kollegen, sondern verehren. auch in dem