VII, Verschiedenes 11, 1895–1898, Seite 10

2. Jänner 1897.
Die Zeit.
Nr. 118
Wien, Samstag,
Seite 6.
waltungen zu, welche ein= bis zweimal gewechselt haben. Die Forderung Philosophie“ berücksichtigt finden. Von einer Parallelisierung von
physischen und psychischen Vorgängen durch mich kann bei meiner
dagegen, jenen Straferlass an mir vollziehen zu lassen, eine Forderung,
neuen, über Kant und Spencer weit hinausgehenden Erkenntnislehre
welche im Lause dieses ganzen Winters mit kaum abzuwehrender Perti¬
und Metaphysik, um deren Würdigung ich v. Feldegg bitte, keine Rede
nacität auf mich eindrang, fällt unter die actuelle Verwaltung. Und
sein. Ich stimme mit ihm darin überein, dass die Psychologie, die
da ich glaubte, dass just diese weniger als die vorigen gemeint ist,
nur Physiologie sein will, eine „kritiklose Unwissenschaft“ ist, und
starrem Bureankratismus zum Rückhalte zu dienen, so fühlte ich mich
glaube, dass ich nicht mit seinen „Modernen“ in einen Topf geworfen
versucht und unterlag der Versuchung, Eurer Ercellenz meinen Klage¬
werden sollte. — Gestatten Sie, hochgeehrter Herr Redacteur, dass
fall mit einer gewissen Weite und Fülle des Tons, ich müsste ganz
ein Autor die günstige Gelegenheit zur Vertheidigung, die manchem
eigentlich sagen, mit der Zutraulichkeit eines geschwätzigen Kindes,
Autor schon genommen ist — nämlich den Umstand, dass er sich noch
vorzutragen. Ist es doch eine lang gestaute Flut, welche auf diesen
am Leben befindet — benütze, um gegen eine Missdeutung von hoch¬
Blättern sich endlich ihr Bett bricht!
achtbarer Seite Einspruch zu erheben.“
Auch hat der Fall mehr und mehr mich bestimmt, mich selbst
In besonderer Hochachtung ergeben
zu vergessen und an das Ganze zu denken. Was mir geschah, geschieht
Univ.=Prof. Dr. Richard Wahle.
wahrscheinlich vielen, geschieht fortwährend und wird geschehen. Dieser
Wien, den 22. December 1896.
Gedanke befeuerte mich, eine Anwaltschaft durchzuführen, welche für
mich selbst wahrlich nicht der Kosten verlohnte. Was hat mich diest
Polizei=Vexation an Zeit, Mühe, Arbeit und verdorbener Stimmung
schon gekostet! Wie hat sie mir nur allein diesen Winter noch ver¬¬
Jung-Wien.
dorben, wo ich nach aller menschlichen Billigkeit doch längst schon.
Berliner Eindrücke.
hoffen durfte, Ruhe zu haben, und wo es nun erst recht in vollen
verheerenden Zornströmen über die gefriedigte Planung meiner Arbeiten.
ung=Wien!?“ Seit wann gibt es das?
hergieng! Ja selbst das vorliegende, kunstlose Concept — welchen 9/3 Wir in Jung Berlin stecken die Köpfe zusammen und tuscheln.
Aufwand von Mühe verursachte es mir! Wenn es mir nicht immez¬
Damals, vor fünf, sechs Jahren, als der Hermann Bahr
gelang, die Natursprache des Affectes zu civilisieren, so wurde dieses
von uns fortgieng, da gab es ein Jung=Wien noch nicht. Was sich
Ziel doch mit oft wiederholter Anstrengung verfolgt und keine Arbeit
etwa so hätte nennen mögen, darum uns zu kümmern, spürten wir
gescheut, den ununterdrückbaren Zorn wenigstens in lesbare Grenzene
jedenfalls keinen Anlass. Wien, das war für uns Berliner — Provinz,
zu zwingen. Welcher vernünftige Mensch thäte das alles, bloß um
ganz einfach! Es war eine stille freundliche Dependenz, die man viel¬
einen Minister zu bitten, einen 10tägigen Arrest aufzuheben? Längst
leicht ab und zu einmal durch ein lobendes Wort aufmunterte. Heute
hätte ich ja diesen Arrest über mich ergehen lassen und dann für
sehen wir ganz anders hin. Hat diese Satrapie etwa Lust sich
immer einem Vaterlande Valet gesagt, wo man Dichter einsperrt und
vom Mutterreiche loszureißen? Wollen die Wiener gar auf eigen: Faust
hungern lässt, welche in Weimar oder München an königlichen Tischen
Literatur machen? Hol' sie der Kuckuck! Haben wir darum den Her¬
bewirtet wurden! Aber ich konnte mich des Vertrauens nicht enthalten,
mann Bahr in unserem Heerstab ausgebildet, dass er hinterher hin¬
dass Ew. Excellenz durch diese Schrift sich gestimmt fänden, nicht um
geht und — Undank ist der Welt Lohn! — in Wien selber was
meine eigene Beschwerde abzustellen — was mir fast Nebensache deucht
gründet? Dass er einen vollen Chor lebendiger Vögel entfesselt, die
sondern in der Bureankratie solche Verfügungen zu treffen, wodurch
unn gar nicht etwa berlinisch, nein — wienerisch pfeifen, alle mit¬
absetzbare Beamte kräftig und für immer gewarnt würden, mit
einander!?
ähnlicher Unbilligkeit unter einem Volke zu walten, welches im ganzen
Wir werden nachdenklich, in Jung=Berlin, stecken die Köpfe
Umfange seiner deutschen Nachbargrenze Beispiele sieht, dass man für
auseinander, und jeder sinnt vor sich hin.
weniger Steuern sich besseren Rechtsschutz erkaufen kann. Diesen Con¬
Wien und Berlin! Wir grübeln nach über den Unterschied der
trast, anstatt zu applanieren, lebendig zu halten und zu schärfen, mögen
beiden Städte, den Unterschied der beiden Literaturen. Die Wiener sind
jene Bureaukraten verantworten, welchen subjectiver Despoten=Kitzel
Europäer, so könnte man sagen, wir in Berlin aber sind — Ameri=,
über die Interessen ihres Kaisers geht, welche sich dann aber mindestene
taner. Der Boden all' ist jungfräulich unter unseren Füßen. Wir leben
das Kindergeschwätz von 1848er=Demokraten abgewöhnen sollten, denn
in einer Stadt ganz ohne Tradition. Wenigstens kriegt man es nicht
weder ich noch irgend ein Oesterreicher dachte damals unkaiserlich,
zu spüren, was Tradition etwa darin sein mag. Und im Grunde
sondern bloß wie heute: unbureaukratisch!
haben wir ja auch kein Herz für sie. Wir sind ja alle gar keine
Berliner. Von da oder dort her aus dem Deutschen Reich, nur kein
Einziger aus Berlin. Viele aus dem Osten, die meisten wohl, aus
Der physiologische Psychebegriff.
Preußen, Posen und Schlesien — und dann steckt oft etwas slavisches
Blut, auchtatarisches dazwischen, mehr noch jüdisches natürlich. Dann einige
Hochgeehrter Herr Redacteur!
aus dem Norden, auch aus der Mark ein paar. Dann Hannover,
Erlauben Sie gütigst, dass ich mit Beziehung auf einen Passus
Westfalen, die Rheinlande. Weniger Sachsen und Thüringen. Süd¬
in dem geschätzten Artikel „Der physiologische Psychebegriff“ von F. von
deutsche fast gar keine oder meist nur auf Besuch. Das aber fort¬
Feldegg in Nr. 116 des IX. Bandes Ihrer geehrten Zeitschrift das
während. Irgend ein Wiener oder Münchener fast immer „mittenmang“
Wort zu einer thatsächlichen Berichtigung ergreife. Ich werde Ihre
bald der, bald jener. Die nordische Hochslut, ehemals so stark, fast
freundliche Erlaubnis nicht zur Einschmuggelung eines Aufsatzes über
völlig verebbt. Die von oben hatten uns beschenken wollen, nun sind
mich missbrauchen. Der Satz, in welchem mir das Unrecht widerfährt,
wir ihnen zu reich geworden. Aber Russen, Polen, und ganz neuer¬
das ich nicht verdiene, lautet: Doctor Richard Wahle, der wunderliche
dings Franzosen tauchen periodisch auf. Und die allerneueste Specia¬
Testamentsvollstrecker der Philosophie, belehrt uns, dass einer der Erben
lität — ja, da muss ich nun das Wunderlichste melden — das ist
der „Königin der Wissenschaften“ die Physiologie sei. Der genannte
factisch ... der Berliner! Er selbst!! Aber gar nicht so, wie man ihn
Artikel wendet sich weiter gegen eine Denkrichtung, welche die Physio¬
sich eigentlich denkt. Nicht schnodderig, nicht leutnantsmäßig, gar nicht
logie an Stelle der Psychologie setzen will, und durch seine Herein¬
sondern sinnig,
borussisch — das sind die anderen weit mehr! —
ziehung meiner Wenigkeit in die Betrachtung wird unsehlbar die Mei¬
spintisierend, ästhetisierend, und gar noch liebenswürdig und ein¬
nung erzeugt, als wenn auch ich ein Anhänger jener Richtung wäre
schmeichelnd! So ist der „Poet“ Georg Hirschfeld, der Bruder
und zur „heutigen Schule“ gehören würde. Dagegen erlaube ich mir
Benjamin des großen Josef Gerhart Hauptmann, ein liebes, zartes,
nun auf Grund meines Werkes, worauf Herr F. v. Feldegg anspielt,
blondes Kerlchen, sowas Neffenhaftes im ganzen Auftreten. So ist
Protest zu erheben.
auch der „Essayist“ Felix Poppenberg, im Herzen gleichfalls
Ob ich „wunderlich“ bin, weiß ich nicht, so wenig als irgend
ein Poet, wohl unser feinster und dankbarster Genießer, dem die ganze
jemand seine Sprechstimme kennt oder erkennen würde, oder überhaupt
Welt gleichsam ein kostbares Vison ist, das man mit weißen gesalbten
den Eindruck seines Gebarens auf andere zu beurtheilen vermag. Mein
Händen zu empfangen hat. Das sind die eigentlichen Jung=Berliner.
Buch „Das Ganze der Philosophie und ihr Ende“ führt allerdings
Hilf Himmel, und sie sehen den uneigentlichen, den Bahnbrechern, so
den Nebentitel „ihre Vermächtnisse an die Physiologie 2c.“ Dieses
verzweifelt unähnlich. Sie haben eher ihre Aehnlichkeit wo anders her.
Gleichnis vom Vermächtnis will, wie der Inhalt meines Buches lehrt,
Ich glaube fast: von Jung=Wien.
nur meine Ueberzeugung ausdrücken, dass die Philosophie, im Speciellen
Ich kenne Jung=Wien aus eigener Anschauung gar nicht, di.
die Psychologie, alle für sie möglichen wichtigen Feststellungen, in
Stadt Wien fast auch nicht. Trotzdem habe ich meine sehr bestimmte
evidenter Weise, jetzt für alle Zeit machen kann und diese der Physio¬
Vorstellung und habe ein gutes Vertrauen in ihre Verläfslichkeit.
logie zur unerschütterlichen Orientierung und Darnachachtung übergibt.
Wien war schon „a Kaiserstadt“ als Berlin noch ein kurfürstliches
Ich liefere nicht, wie es nach dem wertvollen, in Rede stehenden Ar¬
Exercierfeld und sonst nicht viel mehr als ein Fischerdorf war. Die
tikel den Anschein gewinnen könnte, die Probleme der Psychologie an
Culturen vergangener Jahrhunderte hatten damals in Wien bereits
die Physiologie aus. Ich habe im Gegentheile ganz neue psychologische
ein reiches Spielfeld. Diplomaten und Prälaten flüsterten verschwiegen¬
Analysen vor allen „Modernen“ schon im Jahre 1884 in dem „Ge¬
lächelnden Hofdamen pikante Staatsintriguen ins Ohr. Italienische
hirn und Bewufstsein“ geboten, in welchen alle psychischen Erschei¬
Baumeister bauten ihre weltfrohen Barockpaläste und weckten das
nungen, wie Wille, Urtheil, Gefühl 2c. nur als Titel für eigenartige
Verständnis für architektonische Composition ganzer Stadttheile. Ein
Reihen von Vorstellurgen oder Vorkommnissen — wie ich sagte —
begüterter Adel, der die seine Lebensschule von Paris und Florenz
aufgezeigt wurden. Die richtigen Postulate für die Analyse der Auf¬
durchgemacht hatte, siedelte sich in der Kaiserstadt an, stellte Mäcenaten
merksamkeit, welche F. v. Feldegg aufstellt und bei dem Physiologen
und genusserfahrene Dilettanten. Opera seria und Opera huffa,
Zieben nicht berücksichtigt sieht, wird er in meinem „Das Ganze der