VII, Verschiedenes 11, 1899–1901, Seite 55

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1. Miscellansons
zufälligen Begegnung, manchmal erfährt der Begleiter,
daß die Mädchen eine Mutter haben, die streng ist
und deshalb doch zu Hause sitzt, dem Töchterchen aber
eingeschärft hat, daß es vor 10 Uhr daheim sein müsse. Es
ger Goldschnen
ergeben sich für die Aussicht auf einen Verkehr, auf
die Betheiligung an einem Sonper in einem Vorstadt¬
* Bureau für
O“
restaurant keine unübersteiglichen Schwierigkeiten,
Aeußerungen der Lebenslust und eines oft wirklich
Zeitungsausschnitte und Verlag
vorhandenen gutmüthigen Frohsinns lassen einen
der Wissenschaftlichen Revue.
sittenstreugen und von egoistischen Motiven regierten
BERLIN N., Auguststr. 87 part.
Widerstand nicht erwarten, und der durch die gesell¬
schaftlichen Vorurtheile und Satzungen in seinem Ver¬
Telephon Amt III. No. 3051.
hältniß zum Weibe vielfach genirte und beengte

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Cölibatär findet das Mädel, das mit Humor und
Ausschnitt
einiger Grazie ihr Recht auf Vergnügen und Liebe
Telagramm-Huferner
aus
COLDSCHMID T. Auguststr S7.
vertheidigt, naturgemäß „süß“.: Die Ansprüche eines
verwöhnteren Geschmackes auf Bildung, gepflegte
gutes Schuhwerk müssen dabei
Hände und
Berliner Börsen-Courier
wahrscheinlich zumeist in den Hintergrund treten,
auch die Erwartung einer nennenswerthen Unwandel¬
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barkeit der Gefühle, also der Treue. Aber nicht zum
18 DEz. 1901
geringsten Theil macht der Umstand, daß diese Wesen
leicht abzuschütteln sind, das Mädel in den Augen der
ebenso wandelbaren Anbeter so „süß". Es besteht in
diesen Herzensbeziehungen gewöhnlich die Abmachung,
daß man sich ohne Sentimentalitäten trennt, wenn
man sich übergekriegt hat, und daß keine unbequeme
Verpflichtung über diesen Zeitpunkt hinaus, zur Prosa,
zum Zwist, zum Bodensatz irdischer Liebe führen soll.
In diesem Sinne ist wie gesagt nicht zu leugnen, daß
gerade Wien, die Stadt, in der die traditionelle Leicht¬
lebigkeit fast nur noch eine nationale Eigenthümlichkeit
der Frauenwelt genannt werden darf, das Paradies
Vier und dork.
des süßen Mädels ist und daß, wenn man Geschmack
—Am 19. d. M. soll in Berlin eine Operette Wiener
daran findet sie aufzusuchen und sie aus dem Gewühl
Ursprungs aufgeführt werden, die den Titel „Das
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herauszulesen, die Müye nicht unbelohnt bleibt.
süße Mädel“ führt. Es bedarf nicht vieler
sind keine verzauberten Prinzessinnen und keine
Worte, um der Auffassung vorzubeugen, daß den
Heiligen, ihre Lebenslust.
Liebesbedürfniß,
Berlinern bei dieser Gelegenheit in der Person und
Erkenntniß ihres aussichts¬
wohl auch die
Charakteristik das vorgestellt werden soll, was in
das
im
besten Fall mit
losen Daseins,
Wien oder, um es genauer zu bezeichnen, in einem
einer mittelmäßigen Vorstadtehe abschließt, verlockt
Theil der Jung=Wiener Literatur, als „süßes Mädel“
sie, vorher „in der Stadt“ zu lieben und sich von
gilt. Wie ich höre, ist die Titel=„Heldin“ des ge¬
einem artigen Herrn, der gesellschaftlich über ihnen
nannten Bühnenwerkes eine Masseuse, um einer
steht, der ihnen durch Talente imponirt, und den
drolligen Bühnensitnation willen, und der Titel wurde
offenbar seines gefälligen, pikanten und fast populärenrichtigen Ton trifft den Hof machen zu lassen. So
Klanges wegen gewählt. Bei der Operette wird'sgünstig steht die Partie fur den eitlen, männlichen
nicht so genau genommen, wenn's nur in Tönen und Egoisten. Daß er sie nicht heiratben wird, wissen sie.
Dem Defect ihrer moralischen Auffassung steht, des
Worten nach was klingt.
sei zur Ehre des süßen Mädels gesagt, eine harmlose
Wenn über das Wiener Pflaster wirklich „süße
Mädels“ hüpfen, und es bleibt ihnen nichts Anderes! Uneigennützigkeit gegenüber, die es sogar über den
übrig, da die Straßen seit mehreren Jahren unermüd= Speculationsgeist vieler Geschlechtsgenossinnen erhebt,
die sie verächtlich über die Achsel ansehen. Also¬
lich immer wieder aufgerissen werden, so sind es be¬
stimmt keine berufstüchtigen und handfesten Masseusen,ich denke, das süße Mädel ist nicht durchausk
Erfindung der Jung=Wiener Romanciers;
denn der Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler, den eine
Farbentöne
wenn sie zarte und bestechende
man, wie ich glaube, als den Titels
für ein Wiener Frauengenre bezeichnet, schildert sie in wählen, um sie zu schildern, so ist das ein dichterisches
einem seiner Bücher mit den Worten: „Sie ist nicht Erforderniß und vielleicht erscheinen sie ihnen, sofern
sie persönliche Erinnerungen und Erlebnisse mittheilen,
fascinirend schön, sie ist nicht besonders elegant, und
im zauberischen Licht einer Verklärung. Damit wäre
ist darchaus nicht geistreich. Aber sie hat die weiche
Anmuh eines Frühlingsabends und die Grazie einer auch nur eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllt, und
verzankerten Prinzessin und den Geist eines Mädchens, manches Dichterliebchen hält sich für belohnt genug,
So weit der geistige Vater wenn ihr der geliebte Poet in einer seiner Geschichten!
das zuslieben weiß“.
der Weener süßen Mädels. Ueber die Art, wie sie ein literarisches Monument gesetzt hat, über dessen!
Dauerhaftigkeit sie keine genauen Schätzungen anstellen.“
„Bekanntschaften“ machen, wird bei der Gelegenheit
Das süße Mädel ist gutmüthig, uninteressirt und
nochdas für die Don Inans der Straße nicht über¬
liebt um der Liebe willen, heute den, morgen den, und
ras#ende Geheimniß ausgeplandert, „auf der Gasse
solcher Art haben sie die Gleichberechtigung mit den
beim Tanz — in einem Omnibus — unter einem

Männern durchgesetzt, aber dieser Typus ist keines¬
Regenschirm“
wegs eine Entdeckung, der Jung=Wiener Dichter, sie
Einige reifere Wiener Schriftsteller, die sich ver¬
waren höchstens diejenigen, die zuerst eine Wichtigkeit
muthlich auf der Straße nicht nach den Mädels um¬
daraus gemacht haben.
sehen, die keine Tanzschulen besuchen und bei schlechtem
Wien.
P. v. S.4
Wetter keine Regenschirme den Passantinnen offeriren,
behaupten, das „süße Mädel“ sei überhaupt eine
Fiction, eine Phantasie leschetebiger und erotisch ver¬
anlagter französelnder Schilderer, die ihre romantischen
Ideen und von abenteuernder Verliebthrit beherrschten
Vorstellungen auf jedes Ladenmädel übertragen und in
jedem Weibe, das ohne elterliche Aufsicht und Zucht
aufwächst und ihr Leben verbringt, ein „süßes Mädel“
sehen, an deren Grazie und Anmuth sie so lange
glauben, als eben Studenten= und Libertiner=Liebe
währt. Diese pessimistischen Skeptiker bestreiten aber
nicht, daß es in Wien ebenso gut wie in jeder andeen
Großstadt zahlreiche junge Mädchen giebt, die zu
passageren Liebesverhältnissen geneigt sind, die Abenteuer
suchen und sich sogar verlieben können, von der Straße
weg, wie die Grisetten der Paul de Kock'schen Pariser!
Romaue, die weiblichen Typen in Murger's „Zigenner¬