VII, Verschiedenes 11, 1899–1901, Seite 56

7
rerten mnerenchenue
verwöhnteren Geschmackes auf Bildung, gepflegte
Hände und gutes Schuhwerk müssen dabei
Berliner Börsen-Courier
wahrscheinlich zumeist in den Hintergrund treten,
auch die Erwartung einer nennenswerthen Unwandel¬
barkeit der Gefühle, also der Treue. Aber nicht zum
18 DEZ. 1901
geringsten Theil macht der Umstand, daß diese Wesen
leicht abzuschütteln sind, das Mädel in den Augen der
ebenso wandelbaren Anbeter so „süß“. Es besteht in
diesen Herzensbeziehungen gewöhnlich die Abmachung,
daß man sich ohne Sentimentalitäten trennt, wenn
ekriegt hat, und daß keine unbequeme
man sich ii
Verpflichtung über diesen Zeitpunkt hinaus, zur Prosa,
zum Zwist, zum Bodensatz irdischer Liebe führen soll.
In diesem Sinne ist wie gesagt nicht zu leugnen, daß
gerade Wien, die Stadt, in der die traditionelle Leicht¬
lebigkeit fast nur noch eine nationale Eigenthümlichkeit
der Frauenwelt genannt werden darf, das Paradies
Hier und dort.
des süßen Mädels ist und daß, wenn man Geschmack
Am 19. d. M. soll in Berlin eine Operette Wiener
daran findet sie aufzusuchen und sie aus dem Gewühl
Ursprungs aufgeführt werden, die den Titel „Das
herauszulesen, die Mühe nicht unbelohnt bleibt. Es
süße Mädel“ führt. Es bedarf nicht vieler
sind keine verzauberten Prinzessinnen und keine
Worte, um der Auffassung vorzubeugen, daß den
Heiligen, ihre Lebenslust, ihr Liebesbedürfniß,
Berlinern bei dieser Gelegenheit in der Person und
Erkenntniß ihres aussichts¬

wohl auch die
Charakteristik das vorgestellt werden soll, was in
besten Fall mit
losen Daseins, das im
Wien oder, um es genauer zu bezeichnen, in einem
einer mittelmäßigen Vorstadtehe abschließt, verlockt
Theil der Jung=Wiener Literatur, als „süßes Mädel“
sie, vorher „in der Stadt“ zu lieben und sich von
gilt. Wie ich höre, ist die Titel=„Heldin“ des ge¬
einem artigen Herrn, der gesellschaftlich über ihnen
Inannten Bühnenwerkes eine Masseuse, um einer
steht, der ihnen durch Talente imponirt, und den
drolligen Bühnensitnation willen, und der Titel wurde
richtigen Ton trifft, den Hof machen zu lassen. So
offenbar seines gefälligen, pikanten und fast popplären
günstig steht die Partie für den eitlen, männlichen
Bei der Operette wird's
Klanges wegen gewählt.
Egoisten. Daß er sie nicht heirathen wird, wissen sie.
nicht so genau genommen, wenn's nur in Tönen und
Dem Defect ihrer moralischen Auffassung steht, des
Worten nach was klingt.
sei zur Ehre des süßen Mädels gesagt, eine harmlose
Wenn über das Wiener Pflaster wirklich „süße
Uneigennützigkeit gegenüber, die es sogar über den
Mädels“ hüpfen, und es bleibt ihnen nichts Anderes
Speculationsgeist vieler Geschlechtsgenossinnen erhebt,
übrig, da die Straßen seit mehreren Jahren unermüd¬
die sie verächtlich über die Achsel ansehen. Also
lich immer wieder aufgerissen werden, so sind es be¬
ich denke, das süße Mädel ist nicht durchaus
stimmt keine berufstüchtigen und handfesten Masseusen,
Erfindung der Jung=Wiener Romanciers;
eine
denn der Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler, den
Farbentöne
wenn sie zarte und bestechende
man, wie ich glaube, als den heer des Titels
wählen, um sie zu schildern, so ist das ein dichterisches
für ein Wiener Frauengenre bezeichnet, schildert sie in
Erforderniß und vielleicht erscheinen sie ihnen, sofern
einem seiner Bücher mit den Worten: „Sie ist nicht
sie persönliche Erinnerungen und Erlebnisse mittheilen,
fascinirend schön, sie ist nicht besonders elegant, und
im zauberischen Licht einer Verklärung. Damit wärz
ist derchaus nicht geistreich. Aber sie hat die weiche
auch nur eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllt, und
Anmuch eines Frühlingsabends und die Grazie einer
verzankerten Prinzessin und den Geist eines Mädchens,manches Dichterliebchen hält sich für belohnt genug,
wenn ihr der geliebte Poet in einer seiner Geschichten
So weit der geistige Vater
das zulieben weiß“
ein literarisches Monument gesetzt hat, über dessen
der Wiener süßen Mädels. Ueber die Art, wi¬
Dauerhaftigkeit sie keine genauen Schätzungen anstellen.
„Bekatntschaften“ machen, wird bei der Gelegenheit
Das süße Mädel ist gutmüthig, uninteressirt und
noch das für die Don Inans der Straße nicht über¬
liebt um der Liebe willen, heute den, morgen den, und
ras#ende Geheimniß ausgedlandert, „auf der Gasse
solcher Art haben sie die Gleichberechtigung mit den
beim Tanz — in einem Omnibus — unter einem
Männern durchgesetzt, aber dieser Typus ist keines¬
Regenschirm“.
wegs eine Entdeckung, der Jung=Wiener Dichter, si
Einige reifere Wiener Schriftsteller, die sich ver¬
waren höchstens diejenigen, die zuerst eine Wichtigkeit
müthlich auf der Straße nicht nach den Mädels um¬
daraus gemacht haben.
sehen, die keine Tansschulen besuchen und bei schlechtem
P. v.
Wien.
Wetter keine Regenschirme den Passantinnen offeriren,
behaupten, das „süße Mädel“ sei überhaupt eine
Fiction, eine Phantasie leichetebiger und erotisch ver¬
anlagter französelnder Schilderer, die ihre romantischen
Ideen und von abenteuernder Verliebtheit beherrschten
Vorstellungen auf jedes Ladenmädel übertragen und in
jedem Weibe, dus ohne elterliche Aufsicht und Zucht!
aufwächst un ihr Leben verbringt, ein „süßes Mädel“
sehen, an deren Grazie und Anmuth sie so lange
glauben, als eben Studenten= und Libertiner=Liebe
währt. Diese pessimistischen Skeptiker bestreiten aber
nicht, daß es in Wien ebenso gut wie in jeder andern
Großstadt zahlreiche junge Mädchen giebt die zu
passageren Liebesverhältnissen geneigt sind, die Abenteuer
suchen und sich sogar verlieben können, von der Straße
weg, wie die Grisetten der Paul de Kock'schen Pariser!
Romane, die weiblichen Typen in Murger's „Zigenner¬
leben“; aber sie gönnen ihnen den Nimbus nicht, den
Wiener Antoren um ihr mehr oder minder niedliches
Köpfchen flechten.
In ungezählten Exemplaren schwirren sie zu allen
Tageszeiten, zumal am Abend, durch die Stadt und
die Vorstädte, allein, sehr häufig zu Zweien, als
Freundinnen oder „Cousinen“. Sie tragen irgend
etwas in der Hand, ein Päckchen in Zeitungspapier,
damit es aussieht, als hätten ihre Wege den Zweck!
einer „Besorgung“ gehabt, als wäre es nicht die Aus¬
sicht auf eine Aventure, die sie auf die Straße führt
und stundenlang dort festhält. Oder sie kommen, wie
sie sagen, von einer verheiratheten Schwester, einer
Freundin, und sind eben im Begriff nach Hause zu
gehen. Dabei bleiben sie möglichst oft vor den
Schaufenstern stehen, und die suchenden Augen
kriechen manchmal in die äußersten Winkel,
sie kichern, lachen und tuscheln miteinander,
als ob sie sich das Wichtigste zu sagen hätten und
mobilisiren das ganze Arsenal einer etwas agressiven
Coquetterie. Es hält nicht schwer, irgend einen von
der Ahnung eines leichten Sieges angelockten Flaneur
zur Verfolgung zu animiren und mit den paar Phrasen
aus dem Vocabulär des galanten Pürschgängers ist
alsbald eine Brücke zu einer Unterhaltung geschlagen.
Und so wird im Handumdrehen eine Liebelei aus der