VII, Verschiedenes 11, 1902–1906, Seite 38

er Wilsch entspringt mehr einer Liebenswürdigkeit
hrerseits mir gegenüber als
er Empfindung, daß
hre reizvolle Komödie einer Einführung beim deutschen
Publikum bedürfe.
Ein Vorwort, das ist schließlich immer eine Anti
von Erklärung oder von Entschuldigung. Und die
beste Entschuldigung für ein Werk wird immer bleiben,
daß es gelungen ist; die zweifelloseste Erklärung,
welleicht die einzig erlaubte, wenn es sich selbst erklär
Welches Vergnügen mir die Lektüre von „Pet
chagrin“ bereitet hat, habe ich Ihnen seinerzeit nicht
verhehlt. Seither habe ich das Stück im Josefstädter
Theater gesehen, und wieder hat es mir so lebhaft ans
Herz gerührt wie damals, als ich es las. Nennen
Sie es immerhin lächelnd den „kleinen Gram“ oder
„keine Schmerzen“ (ich weiß, daß „Petit chagrin“
hübscher klingt und eigentlich was anderes heißt -
allerdings bestimmt nicht „Fesseln der Liebe“
ich finde nun einmal, daß diese alltägliche Geschichte
von der kleinen Mimi Foy im Grunde recht
traurig ist und auch Ihnen viel tranriger vor¬
kommt, als Sie es zugestehen wollen. Daß Mimi
sich trösten, daß sie eine große Künstlerin werden, daß
sie weiterleben wird, als wäre nichts geschehen —
wie man zu sagen pflegt —, das macht die Sache
höchstens für sie selim etwes weniger traurig, aber
nicht für uns nachdenkliche Zuschauer des Lebens und
seiner Nachbildungen. Und was mir eigentlich für
Mimi noch weher tut, als daß ihr Herz ein wenig
bricht und daß es ihr ein wenig zusammenheilt, ist
dieses: daß sie alles, was ihr passieren wird, im vor¬
hinein gewußt und so auch alle Seligkeit des Anfangs!
schon mit der Ahnung von dem banalen Ende ge¬
nossen und hingenommen hat. Und merkwürdigerweise
hat sie sich nicht einmäl aufgelehm, koum einen
Augenblick, und jedenfalls nicht sehr ernstlich. Aber
sollte sie es wirklich ganz in der Ordnung finden, daß
man ein Wesen ihrer Art verläßt, um irgend ein
Fräulein aus guter Familie zu heiraten, und daß man
ohne weiteres das Recht hat, sie in ihre Welt zurück¬
zustoßen, um ein Mädchen aus einer anderen zur Frau
zu nehmen?
Nein, ich glaube, sie weiß schon
heute, daß ihre Welt die bessere und hoffnungsreichere,
ist, und bald wird sie den tieseren Sinn und das Heil
ihres Erlebnisses darin spüren, daß sie nicht zu ge¬
ring für ihren Geliebten, sondern, daß er ihrer
mnicht würdig war. — Damit wili ich Jorem Georges
icht
einmal etwas Böses nachsagen. Er
im
Grunde ein guter Junge, liebenswürdig
und
hat viel Geist ... Den haben sie alle,
die
jungen Leute in Ihrem Stück. Sie
haben beinahe so viel Geist als ihr Schöpser und
darum mauchmal mehr, als dieser veramworten
könnte. — Besonders Herrn Daumesml habe ich sehr
gern. Er könnte sich mit Recht darüber aufhalten,
als Epifodensigur behandelt zu werden, und ich glaube,
daß er ein wenig tiefer empfindet, und daß ihm daber!
mehr Leid beschieden wird, als Sie uns verraten. Die
meisten Stücke haben ja irgend einen allerletzten Akt,
der nicht geschrieben wurde; und wenn man aus dem
Theater nach Hause geht, liebt man es, solche aller¬
letzten Akte zu dem ausgespielten Stück dazu zu
träumen. Und manche solcher vierten Akte könnte
man sich zu „Petit chagrin“ dazudenken. Aber wer
weiß, ob es auch nur in einem von ihnen so lustig
zuginge als
in Ihren dreien, die in all ihrer
Melancholie oft sehr heiter und immer so amüsant
sind. — So denke ich mir einen Akt, der zwischen
Daumesuil und Mimi spielt; und mir ist, als wenn
Schatten der Vergangenheit ziemlich schwer über ihnen
beiden liegen müßten. Dann seh' ich Georges im
Kreise der Familie Renouard, und trotz allen Glückes
junger Brantschaft sehnt er sich doch nach einer ge¬
wissen Nacht in Versailles zurück, wo unter den
Fenstern drei Violinen und ein Piano spielten nach
sirgend einem unordentlichen Frühstück bei Mimi, und
wielleicht soger nach dem tauttgesüßen Abschiedsmahle
im Café de Madred, de Sommerlüste über den offenen
Balkon in das stille Zimmer zogen.
Sehen Sie, lieber Herr Vancaire, so mache ich mir
Sorgen um manche Leute, die in Ihrer Komödie er¬
cheinen;
so stark ist
der Hauch des Lebens, der
von ihnen ausgeht. Nur um die kleinen Freundinnen
der Lucie ist mir wenig bange, — cher um die Herren.
die einmal ihre Gatten werden sollen.
Aber was erzähle ich Ihnen da? ... Sie wissen
besser, was Ihre Figuren nach dem letzten Fallen des
Vorhangs anstellen und erleben werden als ich. Es
sind ja keine ungewöhnlichen Menschen, und wie Sie
selbst, lieber Herr Vancaire, in der wehmütig
lächelnden Ueberschrift ausdrücken, ihre Schmerzen sind
gering. Aber wirkliche Menschen sind es, und ihre
kleinen Schmerzen gehen uns aus Herz, so vergänglich
sie sind. Und das wird wohl die Hauptsache sein.
Theater und Musik.
Ph. St. Im Lustspielhause hat gestern
eine dreiaktige Komödie „Fesseln der
Liebe“ von Maurice Vaucaire nicht
sonderlich starken Eiodruck gemacht. Nach dem
zweiten Akt hatte der Beifall mit Opposition zu
kämpfen. Artur Schnitzler hat zu der Buchaus¬
gabe des Stückes ein sehr liebenswürdiges Vor¬
wort geschrieben, das aber diese Komödie arg
überschätzt — jedenfalls wäre mir gestern
ein Stück von Schnitzler, gleichviel ob
oder ohne Vorwort von Vaucaire,
mit
weit lieber gewesen. Vaucaires Komödie besitzt
statt Grazie nur Spielrigkeit, statt Innerlichkeit
nur Gemütskoletterie. Der erste Akt bringt nicht
viel mehr als einen Schwankeinfall, der zweite
verweilt allzulange in der Ausmalung einer be¬
denklichen Sitnation, hat aber immerhin einige gut
psychologische Zeichnungen, der Schlußakt ist erfüllt
von der bei mittleren französischen Amtoren üblichen
Sentimentalität: Lucie, die Verlobte des schönen
Georges, besucht dessen Geliebte und erbittet von
ihr, daß sie Georges frei gibt. Was denn ja am
in all diesen Schlußakten bisher regelmäßig ge
schehen ist. Der schöne Georges hat #ag für Tag
von seiner Geliebten, der kleinen Konservatoristin,
Abschied genommen — einmal aber, im zweiten
Akte, wird er bei diesem Abschiednehmen, auf dem
Balkon einer Chambre séparée, von den Schwieger¬
eltern beobachtet, worauf dann die Verlobung
zum Leidwesen des Herrn Georges aufgehoben
wird. Denn Georges empfindet doch etwas wie
Liebe für Lucie und hat nur nicht die Kraft,
seiner Geliebten zum letzten Male Adien zu sagen.
Die Komödie hat mancherlei hübsche Einfälle,
aber kein rechtes Rückgrat. Das Ganze sieht bei¬
nahe aus wie eine Vuriation auf Schnitzlers
Anatol=Szene, nur daß Vaucaire a zu selten
die ironische Ueberlegenheit des Wiener Poeten
besitzt und keine Stimmungskraft hat. Im
zweiten Akte tauchen immer wieder Ansätze zu einer
echten Stimmung auf, aber er vermag sie nicht
festzuhalten und glaubt nun durch Ausmalung ins
Breite ersetzen zu können, was ihm an Dese
mangelt. Der Dialog ist flott, anegend und
amüant, leider steht die Uebersetzung nicht auf
gleicher Höhe. Schon der Titel ist ein Fehlgriff —.
Vaucaire nennt sein Stück „Petit chagrin“
der Uebersetzer sagt „Fesseln der Liebe“, was
ganz unzutreffend ist. Wollte er keine wirkliche
Uebersetzung wählen, so hätte er doch aus dem fran¬
zösischen Titel und aus Ton und Inhalt des
Stückes erkennen müssen, daß dann die richtige
Bezeichnung wäre: „Fesseln der Liebelei“
Uebrigens hat er nicht eine Uebersetzung ins
Deutsche, sondern ins Oesterreichische geschaffen,
verschärft durch mehrmalige Vorführung der ent¬
setzlichen Sprachmißgeburt „selststredend“.
Der darstellerische Erfolg des Abends war die
zierliche, temperamentvolle kleine Konservatoristin
des Fräulein Antonie Tetzlaff. Sie behandeit den
Dialog gewandt und graziös und vermag ein¬
dringlich und doch diskret zu charakterisieren. Sie
erinnert etwas an Lilli Peiri, zeichnet aber oft in
feineren Linien, immer aber mit instinktiver Treff¬
sicherheit. Das Auf und Ab der Empfin¬
dungen, von Betrübnis bis zu schalthaftem Ueber¬
mut, dann all der Lebens= und Liebeshunger dieses
Mädels, das ehrlich liebt, während der schöne
Georges nur liebelt, das kam gestern in der Dar¬
stellung dieser schwierigen und im zweiten Alt ge¬
fährlichen Rolle sehr glücklich heraus. Sehr gut
war's, wie sie zum Schluß die sentimentalischen
Rührungen des Verfassers durch eine gewisse Herbig¬
keit milderte. Für die tragende Rolle des Georges
reichte das Können des gestern allzuviel lächelnden
Herrn Spiranoch nicht aus. Ergötzlichen Humor zeigte
der ganz hübich erfundene Daumesnil Schönfelds;
ansprechend wirkten die Damen Sorger. Mallinger
und Marie Wendt. Das Talent der letzteren ver¬
diente aber wohl, vor größere Aufgaben gestellt
zu werden, als es gestern geschah.