VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 46

——
uS
box 41/2
8 C
1MTane
252 Balduin Groller: 88888
Schleier doch gelüftet und dunkle Rätsel ge¬
fulminante Staatstoiletten an, — die Sache
löst. Es ist eine recht traurige, aber doch
will es! — aber sonst gibt es keine Spur
schon ziemlich gewohnte Erscheinung, daß
von irgendeiner Gespreiztheit oder jener
beim Tode repräsentativer Familienober¬
falschen steifen Würde, die den Zweck haben
häupter in hohen Stellungen deren Hinter¬
soll, jede Vertraulichkeit fern zu halten, aber
in Wahrheit nur einfach langweilig ist. Mit
bliebene, insbesondere die Frau und die
Töchter, sofort und unmittelbar um Klassen
einer richtigen Wienerin, auch wenn sie
heruntergedrückt werden und geradezu ins
großen Staat angelegt hat, hat sich noch
Elend sinken. Man hat das Dekorum ge¬
niemand gelangweilt. Hat sie ein Opfer, so
versüßt sie ihm sein Los durch bestrickende
wahrt, hat standesgemäß und doch über seine
Verhältnisse gelebt.
Liebenswürdigkeit. Ihr Gesicht belebt sich
im Gespräch, und dieses Gesicht, sei es wie
Ein wenig war da gewöhnlich die Wie¬
nerin mitschuldig. Die gesteigerte Lebens¬
es sei, wird übersonnt und verklärt von
echter Lustigkeit und ehrlicher Güte. Immer¬
freudigkeit rechnet und knausert nicht gern.
hin ist die große Dame mehr oder minder
Kommen aber schlimme Tage, dann bewährt
der Ausnahmefall, aber auch der Normal¬
sich ihre urgesunde und frische Natur doch
fall, die Hausfrau, steht gewissermaßen in
wieder. Sie läßt sich vielleicht für kurze
der Öffentlichkeit, sofern sie Gäste bei sich
Zeit beugen, aber nicht brechen. Sie richtet
sieht, Gesellschaft empfängt.
sich wieder auf und richtet sich ein in die
Die Hausfrau weiß vielleicht nicht immer,
neuen Verhältnisse, und wenn es ihr dann
nur halbwegs wieder zusammengeht, dann
was ihr Mann schuldig ist, was sie aber sich
und ihrem Hause schuldig ist, das weiß sie
läßt sie keine Traurigkeit spüren. Dann wird
ohne viel Raunzerei das Leben ernst ge¬
sehr genau. Sie fühlt sich verantwortlich,
sie erkennt ihre Pflicht und sie erfüllt sie.
nommen, es wird geschafft und gearbeitet,
Nichts fürchtet sie mehr, als das Ausgerichtet¬
Auskunftsmittel werden ersonnen, förmlich
werden. Sie strengt sich an, wenn es sein
Erfindungen gemacht, von denen sich ein
muß, über die Kräfte ihres Mannes, ihre
Mann kaum eine rechte Vorstellung machen
Berufsehre als Hausfrau zu wahren. Da
kann. Sie gewinnt neuen Lebensmut und
muß nach zwei Seiten hin operiert werden,
richtet sich auf, wo ein Mann am Wege
nach innen und nach außen. Was das
liegen geblieben wäre hilf= und rettungslos.
Ressort des Innern betrifft, muß die Wirt¬
Es ist übrigens eine alte Geschichte, daß
schaft nett und ordentlich und sparsam ge¬
das eigentlich schwache Geschlecht das männ¬
liche ist. Wer's noch nicht glaubt, der über¬
führt werden. Wo einem niemand herein¬
schaut, kann man sich schon etwas abknappen.
zeuge sich nur gefälligst davon durch ehrliche
Da geht die Hausfrau sogar immer mit
Beobachtung, wie die Frauen im allgemeinen
gutem Beispiel voran, und sie kann da eine
ich freilich habe es hier nur mit den
Opferwilligkeit und Bedürfnislosigkeit be¬
Wienerinnen zu tun — in den Tagen des Un¬
kunden, die ihr von den Außenstehenden
glücks sich zu bewähren wissen, wie sie den
vielleicht niemand zutrauen würde, um so
verzagten Mann aufrichten, ihm frischen
weniger, als, wenn diese einmal wirklich bei
Mut einflößen, ihn in der Krankheit pflegen,
ihr zu Gaste sind, sie sich nicht nur von
ihn gesund machen, ihm zuzureden verstehen,
einer selbstverständlichen Liebenswürdigkeit,
wo er schwankt, und mit ihrem Kreuzköpfel
sondern auch von einem verhältnismäßigen
doch immer das Richtige treffen. In alle¬
Lurus umgeben sehen. Für die Außenwelt
dem stecken Tapferkeit, Gesundheit und bei
immer etwas mehr als man kann!
allen gelegentlichen kleinen weiblichen Tor¬
Im engsten Zusammenhang mit dieser
heiten tiefe natürliche Weisheit und Lebens¬
Lebensauffassung steht für die Wienerin die
klugheit.
Toilettefrage, die ihr sehr wichtig ist. Man
Das spielt sich unter der Oberfläche ab,
wird einwenden: Für welche Frau denn
aber auch im grellen Licht der Öffentlichkeit
nicht auf dem ganzen Erdenrund?! Richtig;
verliert die Wienerin nichts von ihrem eigen¬
aber es gibt da doch gewisse Nuancen
tümlichen und bestechenden Reiz. In der
Die deutsche Frau ist in diesem Punkte viel,
Öffentlichkeit steht sie als Gesellschaftsdame.
viel zurückhaltender. Es ist freilich auch „in
Man braucht dabei nicht gleich an die ganz
Reich“ nicht mehr alles so, wie es war. Auch
großen Veranstaltungen zu denken, an die
dort sind die Frauen in Sachen der Toilette
Ladies patronesses der Elitebälle und an die
wählerischer und kapriziöser geworden, und
sonstigen Generalstäblerinnen der wohldurch¬
es mögen da wohl die fünf Milliarden ein
dachten Feldzüge zum Zwecke der gründ¬
wenig nachgeholfen haben, aber es geht doch
lichen Ausplünderung eines stets willigen
noch anders zu, und noch immer lassen sich
Publikums im Interesse der leidenden Mensch¬
Unterschiede feststellen. Aus der Literatur
heit. Welches Genie sie dabei bekunden, ist
lassen sich die Aufschlüsse holen und aus
weltbekannt. Eines ist sicher: sie schlachten
direkter persönlicher Beobachtung.
ihre Opfer mit vollendeter Liebenswürdigkeit
Die „gute Stube“, die nicht benutzt und
ab. Man gewöhnt sich daran und man sehnt
nicht geheizt wird, in der die Möbel im
sich förmlich danach, von ihnen, wenn man
überzug stehen und die sich nur auftut, wenn
sich wieder erholt hat, neuerdings ein bißchen
ein illustrer Besuch erscheint, der sich unter
abgeschlachtet zu werden. Sie machen das
wirklich famos. Natürlich ziehen sie dazu Umständen dort ausfrieren darf, die ist in