VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 55

Ster eenennnhen unste Uinteinden Romanen.
Freussen. Die Errungenschaften der Bewegung von 1884
Vorbilder aus der Fremde sind, wie schon vorher, Dumas
sind: Bruch mit der überlieferten und schablonenhaft ge¬
und Seribe, ferner Sardon, Feuillet, Augier, Daudet,
wordenen Epigonenkunst, Fühlung mit den großen sozialen
Turgenjeff und Leopardi. Rascher als jemals schreitet die
Mächten der Zeit, Vertiefung in die naturwissenschaftlichen
Entwicklung vorwärts. Schöpferische Talente sind im all¬
Probleme, Kultus des Lebens und der Wirklichkeit in der
gemeinen nicht so zahlreich wie in der dritten Generation
weitesten Ausdehnung, Wiedererweckung Hebbels, Kellers und
vorhanden; die vierte Generation ist kritisch und zweiflerisch
Anzengrubers, Ausbildung einer verfeinerten dichterischen
angelegt. Den literarischen Übergang zur fünften Generation
Technik und Aufsprießen der Heimatkunst.
bezeichnen Kirchbach, Avenarius und Spitteler.
Die Presse nahm zwar einen großen Aufschwung, wird
Die fünfte Generation erhebt sich im Jahre 1884aber immer mehr vom Kapitalismus beherrscht, der die
und bleibt über zwei Jahrzehnte im Besitz ihrer literarischen Individualitäten zermalmt. Der Absatz der Bücher wurde
Macht. 1882 beginnt die literarische Revolution in der
durch die Presse vielfach erleichtert.
Kritik (Kritische Waffengänge), Ende 1884 in der Lyrik
Der Verlag von Wilhelm Friedrich in Leipzig war
(Moderne Dichtercharaktere), 1885 im Roman (Schlechte Ge¬
mit der Geschichte der jüngstdeutschen Literatur um 1885
sellschaft), 1889 im Drama (Vor Sonnenaufgang). Vorboten
eng verknüpft. In Freud und Leid, in Eintracht und
der Revolution zeigen sich schon um 1880. Der Widerspruch
Zwietracht war er mit seinen Autoren verbunden: Bleibtreu,
kehrt sich gegen die Epigonenlyrik, gegen das akademische Conrad, Conradi, Walloth, Alberti, Lilieneron, Heiberg u. a.
Drama, gegen die Zahmheit und Schablonenhaftigkeit der Er war auch Verleger der „Gesellschafte und zeitweilig des
Empfindung, gegen den Mangel an Zeitproblemen, gegen|=Magazins für Literatur=. Bekanntlich ist der Verlag vor einigen
die veraltete Art der Technik und das Elend der literarischen
Jahren ganz eingegangen. Mit größerem Glück nahm der
Kritik. Die Bewegung der jungen Generation war in den
Verlag von S. Fischer in Berlin (1886) die Pflege der
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Zeit
modernen Literatur auf und schwang sich zu dem bedeutend¬
und in dem Wandel der philosophisch=naturwissenschaftlichen
sten Verleger moderner Belletristik auf. Daneben erwähnt
Anschauungen begründet. In allen anderen Künsten trat
Kummer eine lange Reihe anderer Verlagshandlungen, deren
zugleich die nämliche Bewegung hervor. Der Einfluß der
Aufzählung sich hier natürlich erübrigt. Einen eigenen Ab¬
ausländischen Vorbilder auf die Dichtung dieser Generation
schnitt widmet er mit Recht den billigen Volksausgaben,
ist nach Kummers Ansicht stark überschätzt worden; in Wirk¬
die gerade in den letzten Jahrzehnten so ungemein viel zur
lichkeit habe der Geist wiedererwachter Nationalität die Dichter
Ausbreitung guter Literatur im Volke getan haben. Diese
angetrieben, neue Bahnen zu suchen. Hierbei wirkten die aus¬
billigen Sammlungen und Klassikerausgaben haben erst dem
ländischen Denker und Dichter mit: Darwin, Zola, Dosto=Volke die Schätze der deutschen (und zum Teil auch der aus¬
jewski, Tolstoi und Ibsen (bis zu den Gespenstern). Nach 1892
ländischen) Literatur nahegebracht. Kummer sagt sogar:
wird die Generation in ihrer Weltanschauung beeinflußt von
Die ganze fünfte Generation ist, soweit sie literarisch em¬
Nietzsche; vereinzelte Anregungen gehen aus von dem späteren
pfänglich war, in ihrer Jugend mit Reclams Universal¬
Ibsen, Baudelaire, Verlaine, Maeterlinck. Zugleich werden
Bibliothek aufgewachsen. Es ist eine ungeheure, bei keinem
die Werke älterer deutscher Dichter zu neuem Leben erweckt;
andern Volk wiederzufindende Menge von Kenntnis und
Grillparzers Werke, Anzengrubers Volksstücke, Mörikes Lyrik,
Bildung, von Poesie und Begeisterung, die die Reclamsche
Kellers Novellen, Ludwigs Shakespearestudien und Heimat=] Universal=Bibliothek unserm Volke hat zuströmen lassen und
romane, Hebbels Dramen dringen durch und wirken fast
noch immer zuströmen läßte. Mit Recht fügt der Verfasser
mit der Wucht ganz neuer Werke. Den eigentlichen Wende¬
seiner Darstellung der fünften Generation auch eine Statistik
punkt in der Dichtung der fünften Generation bildet das
der meistgelesenen Romane und der meistgegebenen Theater¬
stücke ein.
siegreiche Durchdringen Friedrich Nietzsches, des Denkers und
Dichters. Vor Nietzsche haben wir — um Schlagworte zu
Es ist sehr wohl möglich, daß die von Kummer ge¬
— Sozialismus, Positivismus und in der dichte¬
wählte Einteilung auch von späteren Literarhistorikern bei¬
gebrauchen
rischen Lebensdarstellung den physischen (äußeren) Im= behalten werden wird. Dabei wird man dann vielleicht
pressionismus, nach Nietzsche Sozialaristokratismus und in den einen oder anderen Schriftsteller höher oder niedriger
der Dichtung den psychischen (inneren) Impressionismus. Als werten, als er es getan hat, oder ihn in seinem Haupt¬
Pfadfinder gehen der jungen Generation voran: die wirken einer anderen Generation zuweisen, da es bei
beiden Hart (Kritische Waffengänge 1882 bis 1884), Kretzerl manchen, die zeitlich zu zwei Generationen gehören, immer¬
(Die Lerkommenen 1883), Bleibtreu (Schlechte Gesellscheft hin fraglich ist, welcher Gruppe in der Literatur¬
1885), Conradi (Moderne Dichtercharaktere 1885), M. G.geschichte sie endgültig angehören werden. Auf Einzelheiten
Conrad (das zuerst auf Zola hinweisende Buch Parisiana dieser Art einzugehen, ist hier nicht der Ort. Doch sei noch
besonders hervorgehoben, daß der Verfasser es verstanden
1880 und der Roman Was die Isar rauscht 1888) und
Holz=Schlaf (Papa Hamlet 1889, Familie Selicke 1890) hat, den ungemein reichhaltigen Stoff, eine geradezu ge¬
waltige Fülle von Charakteristiken und tatsächlichen Angaben
Als pfadfindende und führende Talente treten in den
Vordergrund: Theodor Fontane (L'Adultera 1882, Irrungen
in einer durchaus übersichtlichen Form zu gruppieren. Die
Wirrungen 1888), Detlev von Lilieneron (Adjutanten=Darstellung der literarischen Strömungen ist lichtvoll ge¬
ritte 1883, Gedichte 1889), Friedrich Nietzsche (namentlich hhalten, und an sie schließt sich in knappem Stil und zu¬
#n seiner Eigenschaft als Dichter des Zarathustra 1882 eist in kleinerer Schrift das Biographische und das Résumé
der wichtigsten Werke. Entsprechend der Grundidee des
Werkes werden auch die politischen, sozialen, philosophischen
und künstlerischen Verhältnisse, unter denen die einzelnen
Generationen lebten und wirkten, kurz, aber treffend ge¬
schildert, so daß der Leser einen eingehenden Blick in die
Literatur im Rahmen der gesamten kulturellen Umwelt ge¬
winnt. Der Verfasser gehört nicht, wie so viele Literar¬
historiker, dem Verbande einer deutschen Universität an;
er ist Feuilletonredakteur des Dresdner Anzeigers, und
diese journalistische Schulung ist ihm bei diesem Werke
vortrefflich zustatten gekommen. Auf einem solchen Posten,
dessen Inhaber viele Tausende von Büchern durch die Hände
gehen und wo man einer Unmasse von Theateraufführungen
beruflich beiwohnen muß, lernt man bei allem Wohlwollen
der Gesinnung das Wesentliche von dem Bedeutungslosen
unterscheiden, und man gewinnt zugleich eine sichere Praxis
in der Kunst, den oft noch so verworrenen Stoff übersicht=
lich und leicht verständlich einzuteilen. Dies ist neben
einem wohlüberlegten maßvollen Urteil und einer warmen
lebendigen Schilderung der Vorzug, der uns dieses Werk so
ansprechend erscheinen läßt und der auch den Erfolg und
den verhältnismäßig schnellen bisherigen Absatz des Werkes
erklärt.
Tony Kellen.
Bredeney an der Ruhr.