VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 56

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1. Miscellaneons

sideler Brüder mit einem vierstimmig sein wollen=Musik, und wie die Ausläufer der Alpenberge bis
den, frischen Chor. Man merk, sie kommen vom jdicht an die Stadt herantreien, so zieht der gesunde,
Heurigen! Man merkts am Gang wie am Gesang. [fröhliche Ton des steirischen Ländlers und
Feuilletonsei
[Den ersten Tenor reißt es ganz besonders erden= Schnaderhürflers als Grundton durch alle singen¬
Wiener Musik.
Von Dr. Richard Batka. “)¼wärts. Immer dünner wird der Ton, je höher er den und klingenden Lebensäußerungen des Wie¬
ners. Wenigstens des Vorstadtwieners. Da be¬
ihn in die oberen Regionen preßt. Jetzt schlägt er
gegnet man des Abends noch jeden Augenblick lust¬

Sonntagabend. Schon sind die munter kläp= ollends um. Und da singt er nur noch in der
wandelnden Mädchen, die — immer zweistimmig
Fistel. Die zwei alten Drahrer, die in der Mitte
— ihre Gstanzeln singen, ja sogar das Singen auf
pernden Fiaker und die drohend schnaubenden
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Automobile, welche die zahlungsfähigen Donau=lder Straße Arm in Arm dahersegeln, wollens
kärntnerische Art wobei die tiefere Stimme den
phäaken aus Hüttel= und Purkersdorf den heimi- besser machen. Sie sind offenbar Alkoholyriker,
Ansinger der Melodie in der Oberterz mit Falset¬
schen Penaten wiedergeben, an meinem Fenster sentimental, sie riskieren kein Stimmband, sondern
tönen begleitei, kann man an der Peripherie der
vorübergerast und ich sehe den Fußgängern zu, die pfeisen selig, schwärmerisch, zweistimmig vor sich
Stadt noch alle Tage hören. In dem engen Zirkel¬
nun teils scharen= teils paurweise den inneren chin: Tuliäh, duliäh! Nun ein Familienidyll.
tanz der mündlich überlieferten primitiven älpleri¬
Der Vater, höchst animiert, singt und tollt mit den
Stadtbezirken zustreben. Da klingen kecke Fansaren.
nauchzenden Kindern um die Wette, die Mutter will schen Musikformen fühlt sich der Ur=Wiener noch
immer am wohlsten.“
Da stiebt es heran. Ein Radfahrerklub der vom
Ausflug heimkohrt. Bis nach Ober=St. Veit hinauf die Partei des Anstandes und der frommen Sitte
Daneben gibt es eine volkstümliche Wiener
ergreifen. Wird natürlich überstimmt. Allerhand
Musik, die nicht vom Volke selbst gesungen wird,
sieht man die hellen, bunten Lampions, die jedem
Liebespaare passieren, süße Walzer summend, am
Fahrer vorn am Rade baumeln, in langer Zeile
leuchten. Wie ein Schwarm Johanniskäfer huschen Fenster vorbei. Allgemach wird die Menschenreihe die es aber gerne anhört, sich gern vorführen läßt,
dünner. Lücken treten ein. Lauter hallen die ein= die nichts improvisatorisches, nichts elementares
hat, die gedruckt zu haben, nuich für den Export be¬
sie lautlos durch die graue Dämmerung. Kaum ist
das Trompetengeschmetter in der Weite verhallt, gelnen Schritte. Ein einsamer Wanderer stapft da:
stimmt ist und bezeichnender Weise fast durchaus
da humpelt eine schwere Karossade vorbei, acht lnoch des Weges. Er näselt: „Nur für Natur.“
von Juden herrührt. Ja von Juden, deren Wiege
Im Zeitalter Lehars und Leo Falls! Kommt jeden¬
große, von einem Verein für diesen Tag gemietete,
mit Lampions geschmückte, mit Frauen und Kindern falls aus dem Salon der Zurückgebliebenen. Er zumeist weit ienseits der Leopoldstadt, im fernen
Norden und Osten der Monarchie liegt.
vollgepferchte Omnibusse. Inmitten des Zugs ein biegt um die Ecke. Mit einemmal Stille Plötzlich
Die Erscheinung ist merkwürdig genug, aber
offener Leiterwagen, mit Reisig umwunden, drin weht aus dem entfernten Gasthaus der kühle Nacht¬
keineswegs vereinzelt. Das echte, alte Paris z. B.
fünf wackere Musikanten wie besessen darauf los= wind irte Klavierklänge herüber. Aber man kann
vertritt in der Musik Auber. Sein Zusammenhang
fiedeln und schrammeln. Die Gesellschaft in den nichts unterscheiden. Grob fährt ein Pfiff der
mit den Romanzen und Chansons Nordfrankreichs
Omnibussen versucht dazu die Melodie zu singen. nahen Stadtbahn dazwischen. Gepolter. Bremsen¬
ist noch ganz ohrenscheinlich. Dann kommt der
Nun lauteres Pferdegetrapp. Ein verspäteter Fiaker geknirsch. Ich schließe das Fenster.
Ja, sie sind ein Musilvölkchen par excellence, ldeutsche Kantorsohn Jakob Offenbach aus Köln an
die Seine und schafft als Jacques die Operette,
fährt wie ein Blitz vorbei. Seine stark angefeuchte¬
ten Insassen blasen auf Flügelhörnern begeistert ein die auten Wiener. Sie können nicht atmen ohne
schafft das, was wir heute in der Musik als
weithin hallendes, infernalisches Quarteit. Im Nu Musik. Sie stellen noch die Prager tief in Schatten.
verschlingt es die Ferne. Jetzt — eine Gruppe Sie haben ihre eigene, autochthone, volkstümliche I„pariserisch“ verstehen. In Wien wird die Phase