VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 28

Misce
lan
T0s
— ——

box 41/3

e
134 Werner Sombart, Die Grundzüge des jüdischen Wesens.
wird der Jude jene halten, die darauf erwidern würden: nicht Tachlis,
sondern Tragik sei der Inhalt des Lebens, sei der Inhalt der Welt.
Wie sehr die Zweckbedachtheit tief im jüdischen Wesen eingesenkt ist,
können wir besonders deutlich bei den Juden wahrnehmen, in denen gerade
alle Rücksichten auf die praktischen Zwecke des Lebens abgestorben sind wie
bei den Chassidim, die, weil es doch „keinen Zweck hat“, für das tägliche
Brot zu sorgen, ihre Familien hungern lassen und sich lieber dem Studium der
heiligen Bücher widmen. Aber auch bei allen denen, denen eine Müdigkeit der
Seele, ein mildlächelndes Verstehen und Verzeihen, eine weltentrückte frucht¬
reife Lebensbetrachtung eigen ist. Ich denke an so feine Geister unter den
Schriftstellern unserer Tage wie Georg Hirschfeld, Arthur Schnitzler, Georg
Hermann. Was ihren Werken den großen Reiz verleiht, ist jene mildver¬
klärende Weise, mit der sie das Leben anschauen; ist der wehmütig=weiche
Zug, der alle ihre Dichtungen durchweht; ist das in gutem Sinne Sentimentale
ihres Wesens. Gerade darin aber tritt das Willenhafte, das Zweckbedachte
zutage, das hier zum Willenlosen, Zwecklosen umgewandelt ist, aber doch,
wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, das ganze Wesen beherrscht. Es klingt
durch alle Weisen derselbe ganz still klagende Schmerzensruf hindurch: wie
zwecklos und darum wie traurig ist die Welt. Die Natur selbst wird mit
dieser Traurigkeit durchwebt; im Grunde ist, auch wenn die ersten Blumen
blühen in Garten und Wald, immer Herbst; der Wind spielt mit den dürren
Blättern, und die Sonne leuchtet mit goldener Pracht „als wolle sie eilen, da
sie doch bald sinken wird“ am ruhigen, klaren Himmel. Zweckbedachtheit und
Subjektivismus, die schließlich dasselbe sind, rauben den jüdischen Dichter¬
werken ihre Unbefangenheit, ihre Selbstvergessenheit, ihre Unmittelbarkeit,
weil ihr Schöpfer keiner Erscheinung dieser Welt — nicht dem Menschen¬
schicksal, nicht dem Naturgeschehen — harmlos genießend oder harmlos be¬
trachtend gegenübersteht, sondern immer bedenkend und bedacht, immer sinnend
und überlegend. Es duftet nirgend nach Primeln und Veilchen, nirgend stäubt
der Sprühregen eines frischen Waldbaches. (Goethes Jugendlyrik und Heines
Buch der Lieder!) Aber sie haben dafür dieses wundervolle Arom wie ganz
alter Wein; den unendlichen Zauber eines halbverschleierten Blickes lieber,
trauriger, schöner Augen.
Paart sich dann aber die Zweckbedachtheit mit einem starken Willen, mit
einem großen Fon##s von Energien (wie es normalerweise beim Juden
bisher der Fall ist), so wird sie zu dem, was man Zielstrebigkeit nennen kann.
Daß jemand ein Ziel fest ins Auge faßt und im Auge behält, daß er von
einem Ziel, das er sich gesteckt hat, durch keine Widerstände abzubringen ist:
das ist, was ihn zum zielstrebigen, ausdauernden, zähen, hartnäckigen Menschen
macht. Oder auch zum „halsstaarigen“, wie Heine sein Volk charakterisiert.
„Jüdisches Wesen: Energie der Grund von allem. Unmittelbare Zwecke“
(Goethe).
Wenn ich nun noch als einen vierten Grundzug des jüdischen Wesens die
Beweglichkeit bezeichne, so bin ich nicht ganz mit mir einig, ob diese Eigen¬
schaft dem Juden überhaupt oder nur dem aschkenazischen Juden zukommt.
5