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Deutsches Dramenjahr 1910
von Julius Bab
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enn Emil Ludwigs leicht und reich hinspielendes Talent durch
keinen andersartigen Stoff aus seiner Bahn zu locken ist,
wenn auch von seiner Götter= und Gigantenschlacht nichts
haftet als eine lyrische Impression = um wieviel weniger wird da unser
ernsthaftester, geistigster und hartnäckigster Poet aus seinem Zentrum zu
bewegen sein: Paul Ernst. In der Tat ist erstaunlich, wie scheinbar
entlegene Stoffe er seinem Prinzip einordnet. Von 1909 noch legt der
Inselverlag eine Komödie vor: „Ueber alle Narrheit Liebe. Die
Anekdoten von Aristoteles und Thais auf der einen und der Witwe
von Ephesus auf der andern Seite werden hier innerhalb eines Liebes¬
quartetts als Exempel männlicher und weiblicher Narrheit abge¬
wandelt. Aber es geschieht so programmatisch, so gründlich, so hart¬
näckig dialektisch, so unendlich übersichtlich glatt, daß für mich, trotz
vielen wirklich schönen Worten und feinen Wendungen, das Resultat
ganz das Gegenteil von erheiternd ist. Viel schwerer wiegt die 1910
im gleichen Verlag edierte Ninon de Lenclos'. Es ist ein bedeutendes,
in sich vollendetes Stück des Ernstschen Stils. Rigoros wird die
neutrale Szene mit fast ganz unmotivierten Auftritten durchgeführt;
hart und stark die ethische Typierung an den Figuren vollstreckt:
ein plebejisch fanatischer Begehrer Ninons, ein halbtoller Bürgers¬
sohn, bekommt als ihr künftiger Inhaber mit ein paar finster präch¬
tigen Strichen das Gepräge wahllos gehetzter Sinnlichkeit; ihr gegen¬
wärtiger adliger Liebhaber, der jenem zum Opfer fällt, ist der fade
Durchschnittsgentleman; dann im Mittelpunkt der Handlung: Ninons
erster Liebhaber, jetzt ganz Gottergebenheit und Tugend, sein und
Ninons Sohn, ganz die verwirrte und in den Tod flüchtende Unschuld,
und schließlich Ninon „die Buhlerin, die trotz allen edlen Wallungen
ihrer Schuld nicht entgehen kann. Denn nochmals sei es gesagt: Ernsts
Technik, seine gläsernen Menschen, die stets selber zuschauen, wie der
Mechanismus des Ernstschen Sittengesetzes in ihnen abläuft — diese
rigorose Technik ist nur möglich als Abdruck einer ebenso rigorosen,
brutal schlichten Ethik. Für Ernst ist die berühmte Ninon zuerst und
zuletzt doch ganz einfach eine Dirne, und er verwirft sie um bestimmter
Handlungen willen entscheidend. Das aber ist es, wogegen ich mich
(und ich denke mit den besten Geistern der Zeit im Bunde zu sein)
wende: diese Rückführung von Gut und Böse auf einzelne Taten, diese
Werkgerechtigkeit, die konsequent zum absoluten Autoritätsglauben, zum
Katholizismus führt, ist ein kultureller Rückschritt. Sie führt zur
Verarmung des Lebens; denn der Protestantismus, der den Wert im
innersten Glauben des Individuums sucht, der sich in sehr verschiedenen
Taten entladen kann — dieser Protestantismus kennt eine viel reichere,
vielfältigere Welt von Individuen als die katholische, die nur so arm¬
selig viele Menschentypen als bekannte Handlungstypen und im letzten
Ende gar nur „gute' und „böse' bekennt. (Wovon die dramaturgische
Spiegelung Paul Ernsts Einfarbigkeit gegen Shakespearesche Uni¬
versalität ist.) Von Gesetz und Pflicht wollen wir freilich wieder
wissen: aber die ganze ungeheure Kulturarbeit von Luther bis Nietzsche
darf damit nicht negiert sein. Es ist das Gesetz des Einzelnen, die
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Deutsches Dramenjahr 1910
von Julius Bab
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enn Emil Ludwigs leicht und reich hinspielendes Talent durch
keinen andersartigen Stoff aus seiner Bahn zu locken ist,
wenn auch von seiner Götter= und Gigantenschlacht nichts
haftet als eine lyrische Impression = um wieviel weniger wird da unser
ernsthaftester, geistigster und hartnäckigster Poet aus seinem Zentrum zu
bewegen sein: Paul Ernst. In der Tat ist erstaunlich, wie scheinbar
entlegene Stoffe er seinem Prinzip einordnet. Von 1909 noch legt der
Inselverlag eine Komödie vor: „Ueber alle Narrheit Liebe. Die
Anekdoten von Aristoteles und Thais auf der einen und der Witwe
von Ephesus auf der andern Seite werden hier innerhalb eines Liebes¬
quartetts als Exempel männlicher und weiblicher Narrheit abge¬
wandelt. Aber es geschieht so programmatisch, so gründlich, so hart¬
näckig dialektisch, so unendlich übersichtlich glatt, daß für mich, trotz
vielen wirklich schönen Worten und feinen Wendungen, das Resultat
ganz das Gegenteil von erheiternd ist. Viel schwerer wiegt die 1910
im gleichen Verlag edierte Ninon de Lenclos'. Es ist ein bedeutendes,
in sich vollendetes Stück des Ernstschen Stils. Rigoros wird die
neutrale Szene mit fast ganz unmotivierten Auftritten durchgeführt;
hart und stark die ethische Typierung an den Figuren vollstreckt:
ein plebejisch fanatischer Begehrer Ninons, ein halbtoller Bürgers¬
sohn, bekommt als ihr künftiger Inhaber mit ein paar finster präch¬
tigen Strichen das Gepräge wahllos gehetzter Sinnlichkeit; ihr gegen¬
wärtiger adliger Liebhaber, der jenem zum Opfer fällt, ist der fade
Durchschnittsgentleman; dann im Mittelpunkt der Handlung: Ninons
erster Liebhaber, jetzt ganz Gottergebenheit und Tugend, sein und
Ninons Sohn, ganz die verwirrte und in den Tod flüchtende Unschuld,
und schließlich Ninon „die Buhlerin, die trotz allen edlen Wallungen
ihrer Schuld nicht entgehen kann. Denn nochmals sei es gesagt: Ernsts
Technik, seine gläsernen Menschen, die stets selber zuschauen, wie der
Mechanismus des Ernstschen Sittengesetzes in ihnen abläuft — diese
rigorose Technik ist nur möglich als Abdruck einer ebenso rigorosen,
brutal schlichten Ethik. Für Ernst ist die berühmte Ninon zuerst und
zuletzt doch ganz einfach eine Dirne, und er verwirft sie um bestimmter
Handlungen willen entscheidend. Das aber ist es, wogegen ich mich
(und ich denke mit den besten Geistern der Zeit im Bunde zu sein)
wende: diese Rückführung von Gut und Böse auf einzelne Taten, diese
Werkgerechtigkeit, die konsequent zum absoluten Autoritätsglauben, zum
Katholizismus führt, ist ein kultureller Rückschritt. Sie führt zur
Verarmung des Lebens; denn der Protestantismus, der den Wert im
innersten Glauben des Individuums sucht, der sich in sehr verschiedenen
Taten entladen kann — dieser Protestantismus kennt eine viel reichere,
vielfältigere Welt von Individuen als die katholische, die nur so arm¬
selig viele Menschentypen als bekannte Handlungstypen und im letzten
Ende gar nur „gute' und „böse' bekennt. (Wovon die dramaturgische
Spiegelung Paul Ernsts Einfarbigkeit gegen Shakespearesche Uni¬
versalität ist.) Von Gesetz und Pflicht wollen wir freilich wieder
wissen: aber die ganze ungeheure Kulturarbeit von Luther bis Nietzsche
darf damit nicht negiert sein. Es ist das Gesetz des Einzelnen, die
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