VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 44



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Zeichnung von Ians Tempfe.
„Die Wienerin.“
Es ist übrigens eine alte Geschichte, dass
das eigentlich schwache Geschlecht das
männliche ist. Wer’s noch nicht weiss,
der überzeuge sich nur gefälligst davon
durch ehrliche Beobachtung, wie die Frauen
im allgemeinen — ich freilich habe ja
hier nur mit den Wienerinnen zu tun
in den Tagen des Unglücks sich zu be¬
währen wissen, wie sie den verzagten
Mann aufrichten, ihm frischen Mut ein¬
flössen, ihn in der Krankheit pflegen, ihn
gesund machen, ihm zuzureden verstehen,
wo er schwankt, und mit ihrem Kreuz¬
köpfel doch immer das Richtige treffen.
In allem dem steckt Tapferkeit, Gesundheit
und bei allen gelegentlichen kleinen weib¬
lichen Torheiten tiefe natürliche Weisheit
und Lebensklugheit.
Im engsten Zusammenhang mit dieser
Lebensauffassung steht für die Wienerin
die Toilettefrage, die ihr sehr wichtig ist.
Man wird einwenden: Für welche Frauen
denn nicht auf dem ganzen Erdenrund?
Richtig; aber es gibt doch gewisse Nüancen.
Die deutsche Frau ist in diesem Punkte
viel, viel zurückhaltender. Es ist freilich
auch „im Reich“ nicht mehr alles so, wie
es war. Auch dort sind die Frauen in
Sachen der Toilette wählerischer und
kapriziöser geworden und es mögen da
wohl die fünf Milliarden ein wenig nach¬
geholfen haben, aber es geht doch noch „Die Wienerin.“
anders zu und noch immer lassen sich Unterschiede
feststellen. Aus der Literatur lassen sich die
Aufschlüsse holen und aus direkter persönlicher
Beobachtung.
Die „gute Stube“ die nicht benutzt und
nicht geheizt wird, in der die Möbel im Ueberzug
stehen und die sich nur auftut, wenn ein illustrer
Besuch erscheint, der sich unter Umständen
dort ausfrieren darf, die ist in Wien längst zur
Legende geworden.
Die Legende von dem „guten“ Kleid hat
aber in Wien überhaupt niemals bestanden. Dass
also die Hausfrau ein besonders geschätztes Aus¬
stattungsstück, etwa das „Blauseidene“ von Sai¬
son zu Saison sorglich aufhebe und es dann
hervorhole, wenn sich nach Jahr und Tag ein
das gibt es in
bedeutender Anlass ergibt
Wien nicht. Kleider muss man natürlich haben;
man iuss sich doch bekleiden. Jede Frau braucht
also gelegentlich ein neues Kleid. Was die
Wienerin betrifft, so glaube ich, dass es in
ihrem ganzen Leben keine Phase gibt, in der
sie nicht, und zwar besonders dringend, ein neues
Kleid brauchte. Ich kann da sämtliche Ehe¬
männer Wiens zu Zeugen aufrufen. Sie werden
einstimmig bekunden, dass eine Wienerin nic „etwas
zum Anziehen“ hat. Die aber müssen es wissen, sie
haben es aus erster Quelle. Es muss also immer
ein neues Kleid her. Verstehen wir uns recht;
nicht immer ist ein Kleid ein Kleid. Mein Gott, ein
bekleidet ist man bald! Man nennt
Kleid
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Genälde von Alarie Rosenthal-Hatschek.