VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 58


srerchencher
auch ihnen standen jetzt Aureger und Löser auf. Denn
st eine merkwürdige, aber psychologisch begreifliche
Erscheinung, daß die neu Hinzukommenden, die An¬
fänger den Kreislauf der Entwicklung meist nicht noch
leinmal, nicht wieder von vorne durchmachen, sondern
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1. Miscellaneens
dort einsetzten und beginnen, wo zur Zeit ihres Auf¬
tretens die führende, die siegreiche, die modische oder
#moderne Dichtung eben steht. Sie stand damals
gerade bei den gesellschaftlichen Problemen, und zahl¬
reiche Gesellschaftsstücke ganz neuer, oft soziologisch
vorgeschulter Männer waren die Folge. Fremde
Einflüsse, namentlich gallische, wirkten dabei mit, und
weil in Paris besonders der Justiz das Leben
satirisch schwer gemacht wurde, brachten zahl¬
lose Wiener Stücke auch österreichische Justiz¬
zustände in nicht sehr günstiger, doch keines¬
wegs ungerechter Beleuchtung. Ebenso wurde das
alte katholisch=klerikale Problem von neuem in den
Vordergrund geschoben, wie beispielsweise durch Friedrich
von Oestèren in seinem großen Jesuitenroman „Christus
nicht gesus“, der wohl jetzt erst erschien aber da¬
mals bereits entstand, damals bereits seine literarischen
Fundamente bekam. Indes, nicht nur in Gegenwart
und Zukunft, auch in die Vergangenheit schweifte der
freier gewordene Blick, und Hofmannsthal etwa suchte
den Alten das abzugewinnen, was der Jetztzeit an
ihnen noch ein seelisches, ein gefühlsmäßiges Interesse
zu bieten schien.
Da — jählings wieder ein Wechsel in der Physiognomie.
Die Züge mildern sich, werden schmerzlich = blaß, ja
leibend. Was ist geschehen? Ein Rückfall in das
Sinnliche. Wieder sinkt aller Ton auf die Be¬
ziehungen der Geschlechter, ihr Zusammensein und ihr!
Zusammenwirken, ihr Lieben und Weben. Doch jetzt
Die Phgsivgnomie der jungen
klingt dieser Ton nicht leicht mehr, nicht frivol, sondern
sehr seltsam elegisch und manchmal auch empört. Diesk
Wiener Piatung.
Die Phesiognomie der jungen Wiener Dichtung —Ehe, ach die Ehe! Sie hat unseren gereiften Dichtern?
mit der Zeit Veranlassung geboten, ihre Ecken zu
sie hat etwas merkwürdig Feminines. Entspricht das
fühlen, sich an ihren Kanten zu stoßen und wund=se
dem Charakter des Wieners, der weicher, schmiegsamer,
gepufft über sie nachzudenken — versteht sich die Ehe
schwächer ist als etwa der des Berliners? Oder
als Institution, ganz abgesehen von den gewiß vor=n¬
entspricht es der Stellung der Frau in unserem
Keine einseitige Gehässigkeit
trefflich Einzelpersonen.
sinnenfrohen Babel? Genug, es ist so.
kommt zum Vorschein, wie beispielsweise bei Strind¬
Und es bleibt interessant, die Wandlungen dieser
berg; dazu ist Wiener Artistentum zu zartfühlig, viel¬
frauenhaften Physiognomie zu verfolgen, die Gründe
leicht auch zu geschmackvoll. Aber plötzlich wiever hat
dieser Wandlungen aufzuzeigen. Im Anfang war es
es für nichts anderes mehr Sinn als fürs Geschlecht.
der reizende, ein wenig wie von blonden Locken um¬
Das Geschlecht in der Ehe, der Tod der Liebe, die
zauste, stumpfnäsige rotlipeige Kopf eines blauäugigen
unbändige Sehnsucht ins Freie hinaus aus
süßen Mädns. Arthur Schnitzler, Sie wissen
die von ererbten
dem Zwang, die Fesseln,
es, war sein Vater — nein, sein enthusiasmierter
und erworbenen inneren Vorurteilen und äußerem
Entdecker und Freund. Unter dem Einflusse der
realistischen Franzosen und Norddeutschen gingen Druck, Gesellschaft und Gesetz dem Freiheitsstreben!
das macht den Inhalt dieser
unsere jungen Leute auf die Straße und holten da, auferlegt werden
neuesten Phase. Von Bahr erscheint, erfüllt davon,
einer Eigenheit ihres Wesens folgend, nicht das
„Der Meister", von Schnitzler das nicht nur müde,
Ernste und Strenge in die engen, eleganten Stuben
ihrer Literatur, nicht den Arbeiter und seinen Kampf,auch matte Ehedrama „Zwischenspiel", und Max
Burckhardt, allen voranschreitend, schreibt schon das
sondern das Angenehmste und Hübscheste, das es da
Scheidungsstück „Im Paradies“.
unten gab, das leichte, dumme, heiße Wiener Vorstadt¬
Das sind wir nun. Und wenn wir zurückschauen,
kind. Das war die Wendung, die der Realismus in
so drängt sich uns die absolute Abhängigkeit der
unserem südlich sonnigeren Klima nahm. Natürlich
jungen Wiener Dichtung von der Frau mit zwingender
gab es individuelle Distinktionen. Der schenkte dem
Daher ihre Fehler und ihre
Deutlichkeit auf.
Gesichtchen der Süßen einen blauen, dunkeln Strich
ihre reizvolle, bunte, fast
Vorzüge, daher
unter die Augen, der gab den Blicken jenen geheimnisvoll
daher
werbend=reiche und geschmückte Form,
feuchten Glanz, der nahm den Farben die Frische und
aber auch die überwiegende stoffliche Begrenztheit, die
der stilisierte das Wiener Mädel zur ägyptischen
immer wieder hervortanchende Enge des Horizonts.
Sphinx. Tatsächlich war aber eine zeitlang bei uns
Natürlich einzelne gibr es, die sich in dieses Schema;
unter all der Mannigfaltigkeit der äußeren Er¬
nicht pressen lassen, die es mit ihrer Individualität
scheinung, den symbolistischen Maschen, den Boticelli¬
sprengen, doch für das Gros der Großen und der
schen Locken, den bunten Gewändern, das gleiche
Kleinen gilt es; und bezeichnend dafür ist besonders
Modell stets zu erkennen: das süße Mädel.
vielleicht der Umstand, daß der männliche Entwicke=
Wie's ihm im Leben geht, so ging es ihm auch in
lungsroman, wie er in Deutschland nun schon seit
der Literatur. Es wurde, nachdem man es satt hatte,
höchst treulos in die Ecke gestellt. Unsere jungen Jahren Erfolg auf Erfolg gewinnt, von Frenssen bis
auf Steiger und Tamm, bei uns, allen Sieges¬
Dichter wurden älter, besannen sich auf ihre gute
exempeln im Reiche zum Trotz, noch keinen einzigen
Erziehung, sagten der Straße Ade, fanden am fest¬
Nachahmer hervorzubringen vermochte.
lichen Schimmer der Gesellschaft wieder Gefallen, und
Rudolf Strauß. 1
der wandelbare Kopf unserer Dichtung erhielt fort
einen anderen Ausdruck: den der hübschen verh#####eten
i 18.—
Frau. Was nämlich die Pariserin trifft, das trifft wehlauch¬

die Wienerin: Auch sie ist leicht, verwegen und kokett unds
lieber Mehreren treu als Einem. Eine Periode der!
Wiener Frauenschilderung brach an, und bunte schwüle
sündige Parfums hauchten verwirrenden Duft aus.
Soll ich Namen nennen? Die Zahl dieser Gattung
Skizzen und Novellen ist zu groß. Gemeinsam war
ihnen die Freude, die Lust an der Frau, die Stellung¬
nahme für diese, die hier und da, wie beispielsweise
bei Auernheimer, zwar spöttisch=überlegen glossiert
wurde, gegenüber dem Gatten aber zumeist doch ganz
vortrefflich abschnitt. Denn noch handelt es sich um
die Junggesellenperiode unserer jungen Dichter, die
durch die Entwicklung vom sützen Mädel zur
sich
lockenden Frau — anderer — deutlich charakterisiert.)
Aber dann kam die eigene Frau. Und das Gesicht
der Dame Dichtung verwandelte sich abermals. Ver¬
sonnen schien es, ernst und beinah männlich=scharf.]
Der Zauber der Sünde erblich. Durch die Ehe