VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 59

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1. „Iscellaneons
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sexuell gesättigt und beruhigt — dieser Zusammen¬
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hang zwischen Leben und Werk ist unvertennbar —
entdeckten unsere noch immer jungen Dichtee plötztech.
daß es auch andere Gebiete noch, gebe als nur die
schlüpfrigen galanter Ziebesaventuren. Und wenn
auch aus den Din Inans nicht allsogleich

wenn
sich auch
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lauter Fauste wurden,
nicht allsogleich in schwerergründliche Ibsentiefen
wagten, gesellschaftlichen Schäden rückten sie doch an
den Leib. Das militärische, das parlameniarische
Problem wurde aufgerollt, und Schnitzler etwa schrieb
seine berühmte Novelle „Lientnant Gustl“ die ihm
seine so datische Charge kostete, Bahr das Drama
das unseren politischen Katzen¬
„Der Apostel“,
sammer mehr schlecht als recht auf die Burgtheater¬
bühne brachte. Den Fragen der sozialen Bewegung —
auch ihnen standen jetzt Anreger und Löser auf. Denn
es ist eine merkwürdige, aber psychologisch begreifliche
Erscheinung, daß die neu Hinzukommenden, die An¬
fänger den Kreislauf der Entwicklung meist nicht noch
einmal, nicht wieder von vorne durchmachen, sondern
dort einsetzten und beginnen, wo zur Zeit ihres Auf¬
tretens die führende, die siegreiche, die modische oder
moderne Dichtung eben steht. Sie stand damals
gerade bei den gesellschaftlichen Problemen, und zahl¬
reiche Gesellschaftsstücke ganz neuer, oft soziologisch
vorgeschulter Männer waren die Folge. Fremde
Einflüsse, namentlich gallische, wirkten dabei mit, und
weil in Paris besonders der Justiz das Leben
satirisch schwer gemacht wurde, brachten zahl¬
lose Wiener Stücke auch österreichische Justiz¬
zustände in nicht sehr günstiger, doch keines¬
wegs ungerechter Beleuchtung. Ebenso wurde das
alte katholisch=klerikale Problem von neuem in den
Vordergrund geschoben, wie beispielsweise durch Friedrich
von Oestèren in seinem großen Jesuitenroman „Christus
nicht Jesus“ der wohl jetzt erst erschien aber da¬
mals bereits entstand, damals bereits seine literarischen
Fundamente bekam. Indes, nicht nur in Gegenwart
und Zukunft, auch in die Vergangenheit schweifte der
freier gewordene Blick, und Hofmannsthal etwa suchte
den Alten das abzugewinnen, was der Jetztzeit an
ihnen noch ein seelisches, ein gefühlsmäßiges Interesse
zu bieten schien.
Da —jählings wieder ein Wechsel in der Physiognomie.
Die Züge mildern sich, werden schmerzlich = blaß, ja
leidend. Was ist geschehen? Ein Rückfall in das
Sinnliche. Wieder sinkt aller Ton auf die Be¬
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ziehungen der Geschlechter, ihr Zusammensein und ihr
Zusammenwirken, ihr Lieben und Weben. Doch jetzt
Die Phusiognomie der jungen
klingt dieser Ton nicht leicht mehr, nicht frivol, sondern
sehr seltsam elegisch und manchmal auch empört. Die
Wiener Micstung.
Die Physiognomie der jungen Wiener Dichtung —Ehe, ach die Ehe! Sie hat unseren gereiften Dichtern
mit der Zeit Veranlassung geboten ihre Ecken zusd
sie hat etwas merkwürdig Feminines. Entspricht das
fühlen, sich an ihren Kanten zu stoßen und wund=#es
dem Charakter des Wieners, der weicher, schmiegsamer,
gepufft über sie nachzudenken — versteht sich die Ehe
schwächer ist als etwa der des Berliners? Oder
als Institution, ganz abgesehen von den aewiß vor=
entspricht es der Stellung der Frau in unserem
trefflich Einzelpersonen. Keine einseitige Gehässigkeit
sinnenfrohen Babel? Genug, es ist so.
kommt zum Vorschein, wie beispielsweise bei Strind¬
Und es bleibt interessant, die Wandlungen dieser
berg; dazu ist Wiener Artistentum zu zartfühlig, viel¬
frauenhaften Physiognomie zu verfolgen die Gründe
leicht auch zu geschmackvoll. Aber plötzlich wieder hat
dieser Wandlungen aufzuzeigen. Im Anfang war es
es für nichts anderes mehr Sinn als fürs Geschlecht.
der reizende, ein wenig wie von blonden Locken um¬
Das Geschlecht in der Ehe, der Tod der Liebe, die
zauste, stumpfnäsige rotlippige Kopf eines blauäugigen
unbändige Sehnsucht ins Freie hinaus aus
süßen Mädels. Arthur Schnitzler, Sie wissen
die von ererbten
dem Zwang, die Fesseln,
es, war sein Vater — nein, sein enthusiasmierter
und erworbenen inneren Vorurteilen und äußerem
Entdecker und Freund. Unter dem Einflusse der
realistischen Franzosen und Norddeutschen gingen Druck, Gesellschaft und Gesetz dem Freiheitsstreben
— das macht den Inhalt dieser
auferlegt werden
unsere iungen Leute auf die Straße und holten da,
neuesten Phase. Von Bahr erscheint, erfüllt davon,
einer Eigenheit ihres Wesens folgend, nicht das
„Der Meister", von Schnitzler das nicht nur müde,
Ernste und Strenge in die engen, eleganten Stuben
ihrer Literatur, nicht den Arbeiter und seinen Kampf, auch matte Ehedrama „Zwis.benspiel" und Max
sondern das Angenehmste und Hübscheste, das es dal Burckhardt, allen voranschreitend, schreibt schon das
Scheidungsstück „Im Paradies“.
unten gab, das leichte, dumme, heiße Wiener Vorstadt¬
Das sind wir nun. Und wenn wir zurückschauen,
kind. Das war die Wendung, die der Realismus in
so drängt sich uns die absolute Abhängigkeit der
unserem südlich sonnigeren Klima nahm. Natürlich
jungen Wiener Dichtung von der Frau mit zwingender
gab es individuelle Distinktionen. Der schenkte dem
Daher ihre Fehler und ihre
Deutlichkeit auf.
Gesichtchen der Süßen einen blauen, dunkeln Strich
Vorzüge, daher ihre reizvolle, bunte, fast
unter die Augen, der gab den Blicken jenen geheimnisvoll
daher
werbend=reiche und geschmückte Form,
feuchten Glanz, der nahm den Farben die Frische und
aber auch die überwiegende stoffliche Begrenztheit, die
der stilisierte das Wiener Mädel zur ägyptischen
immer wieder hervortauchende Enge des Horizonts.
Sphinx. Tatsächlich war aber eine zeitlang bei uns
Natürlich einzelne gibt es, die sich in dieses Schema
unter all der Mannigfaltigkeit der äußeren Er¬
nicht pressen lassen, die es mit ihrer Individualität
scheinung, den symbolistischen Maschen, den Boticelli¬
sprengen, doch für das Gros der Großen und der
schen Locken, den bunten Gewändern, das gleiche
Kleinen gilt es; und bezeichnend dafür ist besonders
Modell stets zu erkennen: das süße Mädel.
vielleicht der Umstand, daß der männliche Entwicke¬
Wie's ihm im Leben geht, so ging es ihm auch in
lungsroman, wie er in Deutschland nun schon seit!
der Literatur. Es wurde, nachdem man es satt hatte,
Jahren Erfolg auf Erfolg gewinnt, von Freussen bis
höchst treulos in die Ecke gestellt. Unsere jungen
auf Steiger und Tamm, bei uns, allen Sieges¬
Dichter wurden älter, besannen sich auf ihre gute
exempeln im Reiche zum Trotz, noch keinen einzigen
Erziehung, sagten der Straße Ade, fanden am fest¬
Nachahmer hervorzubringen vermochte.
lichen Schimmer der Gesellschaft wieder Gefallen, und
Rudolf Strauß.
der wandelbare Kopf unserer Dichtung erhielt sort
einen anderen Ausdruck: den der hübschen verheirateten
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Frau. Was nämlich die Pariserin trifft, das trifft we lauchs
die Wienerin: Auch sie ist leicht, verwegen und kokett und