VII, Verschiedenes 11, 1912–1913, Seite 32

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1. Miscellaneons
Vertretungen:
in Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
SLHLITEN TAGBLAT
vom:


Das andere Wien.
Von Albert Ehrenstein. (Nachdruck verboten)
aß es in Wien außer den sattsam berühmten süßen
Mädeln der Literatur und außer den Neolibrettisten,
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daß es in Wien, wo jedes Cottageviertel seinen Be¬
zirksdostojewski, jedes obskure Blättchen seinen Feuilleton¬
watteau besitzt, auch noch und vor allem geistig reine Kräfte
gibt davon scheint man weiter nördlich nicht allzuviel zu
wissen. Zwar werden die Emanationen der stärksten Potenz
unter den Wiener Autoren, die Schöpfungen von Karl
Kraus, heutzutage nicht mehr totgeschwiegen, aber es haftet
ihnen nicht jene Plakatgrelle an, die selbst bei den Arbeiten
Weiningers zu konstatieren ist, und damit fallen für das träge
Normalgehirn die werbenden Reize fort.
So haben nur „die wenigen Edlen“ die bestimmte Pracht
seiner „Sprüche und Widersprüche“ den exklusiven
Witz und das prophetische Pathos der „Chinesischen
Mauer“ ihrer Bewunderung zugeführt. Aber selbst von
dieser Minorität fiel mancher ab. Als Heine und die
Folgen“ erschien, ergab sich unter den abtrünnigen An¬
hängern eine kleine, lustige Verkehrsstockung. Dieser Schritt
ist für Kraus aber nun einmal eine Lebensnotwendigkeit ge¬
wesen. Seiner psychischen Konstitution nach mußte er seinen
elementaren Vernichtungstrieb auslassen. Der Stil dieses
Mannes ist nicht „eigenartig“, er ist gar nicht da, es ist
die nackte deutsche Sprache, die sich durch Karl Kraus präsen¬
tiert. Das Organ der Sprache allein kann alles: von dor
an sich minder wertigen, nichtsdestoweniger genialen Repro¬
duktion und Parodie saloppen Bombasts bis zu dem für einige
Ewigkeiten feststehenden Aphorismus. Und da Karl Kraus, wie
ich glaube, das Organ der heutigen deutschen Sprache ist, wäre
es meines Erachtens nicht am Platze, seinen (gleich den drei
vorerwähnten Büchern bei Albert Langen erschienenen)
Aphorismenband Pro domo et mundo“ irgendwie
mit den Leistungen französischer Aphoristen oder den Betrach¬
tungen Lichtenbergs und Nietzsches zu vergleichen. Es scheint
mir barbarisch, ein Buch zu analysieren, das keine Kritik ver¬
trägt, weil es für mich die Vollkommenheit ist.
Ob man nun seine (bei Jahoda u. Siegel verlegte) Bro¬
schüre „Nestroy und die Nachwelt“ oder sein trotz
scheinbar aggressiver Formulierungen nie ins Ungerechte ver¬
zerrtes Porträt Arthur Schaitzlers zur Hand nimmt, stets
dieselbe dämonische Rafang der Spräche Wieviel Manieriert¬
heit verging bereits unter den Sichelwagen seines Grimmes,
wie wenige Essayisten vermochten sich dem Einfluß seiner
Wesenskraft zu entziehen! Von Krausimitationen wimmelt
es nämlich nicht nur bei den ihm deswegen feindlichen
Wiener Blättern und jungberliner Neokrakeelern, sogar in
einer so erdfernen Zeitschrift, wie sie dem Namen nach der
vielversprechende „Saturn“ des amüsanten Heidelberger
Humoristen Hermann Meister sein sollte, fehlt es neben
hochwertigem und ergötzlichem Eigenbau ab und zu nicht an
imprägnierten Stellen.
Um so bemerkenswerter bleibt es, wenn in Wien selbst,
auf dem ureigenen, kampferoberten Schlachtfelde des
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zornvollsten Propagators der „Neuen Freien Presse“, im un¬
mittelbaren Bereiche der shakespearisch dialektischen Witze, der
biblischen (Verwünschungen und Flüche des Herausgebers
der „Fackel), ein Schaffender, völlig krausfrei und nicht
verschluckt von diesem Erderschütterer, zu existieren und sich
dem ungestörten Genusse eines unwandelbaren Stiles hinzu¬
zeben vermag. Einer dieser seltenen Unabhängigen, der ein¬
zige zudem unter den literarisch wertbaren Wiener Autoren,
der in keiner Weise auf die Ergebnisse der pansexuellen
Freudschen Psychoanalyse reagierte, ist der von unsauberen
Likeraturpolitikern und Ruhmverteilern mit gleicher Vergeb¬
lichkeit zurückgesetzte Otto Stoessl.
Es gibt Erzähler, ganz und gar Epiker im Stil, in der
Haltung und in der Technik, die alles Gedankliche in eine so
erhabene Form bringen, daß Artisten in die klassisch=r¬

fremden und ihm statt dessen literarische Wechselbälge, tugend= wicklung zur Neurose steht
hafte oder gar sublime Produkte einer für den Volksgeschmack heit und Minderwertigkait
indiskutabeln Hochkunst zu unterschieben. Aber die Leser tende, sichernde, beruhigende
wollen das ihnen zugemessene kleine Quantum Leben in ein Sträglich zu machen. M
Marin¬