VII, Verschiedenes 11, 1913–1915, Seite 57

1. Miscellaneous
box 41/5


seine echte Kultur
Wer heute nicht Mitfühlender mit den ungezählten
Opferern ist, hat die Verbannung verdient. Mittühlender
wir meinen es im Sinne einer Erzählung Roseggers:
da klagte eine Mutter, die zwei Söhne im Felde hat, die
Leute verständen so gar nicht, sie zu iisten. Diese Mutter
hatte von allen schönen Reden nichts, aber sie war ge¬
tröstet, als des Tichters Gattin mit ihr weinte. So müssen
heute alle Mitfühlende, Mitstreitende, Mitfreudige, Mit¬
weinende sein. Und nicht zuletzt in der Kunst, auf dem
Theater muß das Ausdruck finden. Das Theater solchen
Mitgefühls ist zeitgemöß — das andere verdient unsere
Verachtung.
Es wurde hier bereits gesagt, daß eine Reihe Stücke,
die in letzter Zeit über die Burgtheaterbühne gingen,
höchst unzeitgemäß waren, so „Klein Eyolf“, „Die fünf —
Frankfurter", „Der einsame Weg“, „Schirin und Ger¬
traude“ usw. Unzeitgemäß, dem Wollen und Sinn der
Gegenwart widersprechend, ist auch das nach fünf Jahren
wieder ausgegrabene Lessingsche Drama „Nathan der
Weise“ das heute über die Bretter gig. „Nathan der
Weise“ ist eine zeitgeschichtlich bedingte theologisch=philo¬
sophische Polemik, welche bei veränderten Verhältnissen
ihre Mission verloren. Braucht es heute noch einen Kampf
gegen allzu buchstabenfeste Pasioren, nachdem die prote¬
stantische Bibelauslegung so frei geworden? Braucht es
heute Spott über die Heuchler, deren Praktizieren hinter
dem Glauben zurückbleibt, heute, wo im Heldenmut der
Soldaten, im Opfersinn der Mütter, in der ssbereit¬
schaft der Massen so viel echteste Religion sich uswirkt?
Lessings „Nathan der Weise“ wächst heraus aus einem
blassen Deismuls, der den Menschen in der Hauptsache auf
den Menschen stellt, den Begriff der göttlichen Offen¬
barung verwirft, beziehungsweise alle Offenbarungen:
Judentum, Isläm, Christentum, einander gleichsetzt.
Braucht es ein solches ins Lichtstellen des Deismus in,
Tagen, da das Christentum eine Wiedergeburt in weiten
Kreisen erlebt? Lessings „Nathan der Weise“
ein
Stück zugunsten der Juden auf. Kosten der Christen. Ein
ungerechtes, unduldsames Stück; denn während als Ver¬
treter des Judentums eine Heldengestalt, eine Idealfigur:
Nathan, gewählt ist, sind die Vertreter des Christentums:
der Patriirch, Daja, der Tempelherr, der Klosterbruder,
mit den Attributen böswilliger Lieblosigkeit, naiver, aber¬
gläubischer Gutmütigkeit und Einfalt, der ins Allzumensch¬
liche stürzenden Prinzipienschwäche bedacht. Lessing mochte
mit einem Verteidigungsstück für die Juden begreiflich
sein in einer Zeit jüdischer Rechtsbeschrönkung, in einer
Zeit, wo Heine angesichts gewisser Kämpfe sagte: „Das
Judentum ist keine Religion, sondern ein Unglück.“ Aber
braucht es heute und bei uns Toleranzpredigten zugunsten
der Israeliten? Häute und bei uns, wo die Toleranz er¬
möglichte, daß Israeliten in der Volkswirtschaft des
Staates bestimmenden Einfluß haben, daß Israeliten
zu vier Fünfteln, wenn nicht zu neun Zehnteln auf der
Bühne und in der Presse den Ton angeben, daß Israe¬
liten an den Stätten der Wissenschaft, in der Rechtsan¬
waltschaft und Medizin, in einer den Prozentsatz des Be¬
völkerungsanteils fünf- und zehnfach überschreitenden Zahl
vertreten sind?
Wir sind nicht unduldsam. Leuten, denen Schnitzl
Kadelburg, Trebitsch, Blumenthal, LArronge, Wdekind
Tiefe. Geistigkeit, Erhebung bieten, sei der Genuß und
die Erbauung unbenommen. Nur entspricht der Geist
Hlcher Autoren nicht dem Sinn des größten Teils der
Bürgerschaft, zumal nicht in der Kriegszeit. Und deshalb
bödeutet es eine Herausforderung, eine Beleidigung dieser
Mehrheitskreise, wenn auf die erste Bühne dieses Reiches
Sachen gebracht werden, die besser, sagen wir einmal,
in der jetzt geschlossenen und deshalb zur Verfügung
stehenden — Börse aufgsführt würden.
7117
Aber wir protestieren dagegen, daß uns
gegenwärtig die Literatur dieser Kreise oder die zu¬
gunsten dieser Kreise auf kaiserlichen Hofbühnen als Kunst
für im Kriege stehende patriotische Oesterreicher geboten
wird.
Die Aufführung des Lassing=Dramas im Burgtheater
zeigte reife Kunst. Herr Stobert brachte das Abgeklärte,
Ueberlegene der Nathanfigur gut zum Ausdruck. Herr
Gerasch als Tempelherr ließ seinem Pathos bisweilen all¬
Patriarch
zusehr die Zügel schießen: Herr Heine
steigerte noch das Karikaturhafte der Patriarchenfigur.