VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 2

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Miscellaneous
Seite 11
4. April 1915
Neues Wiener Journal
Später hörte ich allgemein, Nikita habe durch Börsenagenten und Urvölker Turkestans aus Taschkend, Buchara und Samarkand,
eine Leicht¬
seen, wäre in österreichischen und anderen, damals stark gefallenen Werten die Tscheremissen, Morwinen, Tschuwasen, Ugrier und Permiaken
gesizt, als er schon zum Nachgeben entschlossen war. Mit einem und Samojeden als sibirische Horden der Tundren. Und alle diese
nicht vor
der er in Millionengewinn hat er nach beschworener Kriegsgefahr die ge¬ wilden Stämme scharen sich um den hohen Thron des weißen
te nicht die stiegenen Papiere wieder verkauft. Schlauer Nikita! Es wird ihm Zaren, um gegen die bestgeschultesten Armeen der Welt zu
auch diesmal nicht an den Kragen gehen. Die Natur seines Landes marschieren: das ist Rußlands Schicksal
und die
schützt ihn davor. Freilich, auf die erhofften, fetten Bissen wird er
-
diesmal wohl verzichten müssen; und das Geschäft im Hotel Negus
itte dieser
Bühnendichter, Theaterleiter
hatte in wird auch nicht gerade glänzend gehen. Mausern aber wird sich
rag ver¬ der Falke der schwarzen Berge kaum.
und Schauspielberühmtheiten.
habe
(Nachdruck verboten.)
nommen
Unterredung mit dem Spielleiter des Münchener
lut nicht
Hofschauspiels Albert Steinrück.
diese ist
Moskau-Marschau-Lemberg.
(Von unserem Münchener Korrespondenten.)
München, in der Osterwoche.
Von
Wenn man von den namhaften Persönlichkeiten des modernen
Der Kriegsrummel in Warschau. — Das polnische Manchester deutschen Bühnenlebens spricht, muß auch Steinrücks Name ge¬
nan werden. Auch er kam auf dem Umwege über Reinhardt und
- Wie ein russisches Armeekorps aussieht. — Rußlands Schicksal
Berlin zu seiner heutigen Stellung in München. Vor zwanzig
Von Moskau nach Warschau geht es immer noch mit der
Jahren sah ich Steinrück, den damals erst Zweiundzwanzigjährigen,
Eisenbahn, und man weiß nicht, ob man in Kriegszeiten leb¬
wenn man keine Zeitung in die Hand nimmt. In Warschau ist im Breslauer Lobe=Theater zum erstenmal. Auf breiten, wuchtigen
der Kriegsrummel schon groß, vollends noch, wenn wir die Weichsel Schultern ruht der scharf geschnittene Künstlerkopf, die Augen
Aber
überschreiten, um in die Kriegszone uns zu begeben. Der erste kontrastieren mit ihrem gutmütigen Ausdruck zu den oft zusammen¬
weilte
Mann, der uns anhält, ist ein russischer Wachtposten, etwa gebissenen schmalen Lippen. Die vorspringende Stirn kündet
aßhaft.
nach 500 Meter von der Alexanderbrücke entfernt. Kaum daß wir davon, daß hinter dieser kühnen Wölbung ein nimmer¬
Reise Warschau, die Licht, Luxus- und Liebesstadt Rußlands mit seiner müder Drang zu immer neuem künstlerischen Schaffen
Oper, seinen Theatern, seinem Zirkus, seinen Welthotels und beherrscht. Wie im Fluge eilten uns in zwei Stunden angeregtester
lötzlich
Unterhaltung die letzten zwanzig Jahre deutscher Theatergeschichte
nicht seinen Music Halls, hinter uns haben, zeigt uns der Krieg sein
grimmiges Gesicht. Die Landstraße ist durch der Granaten Gewalt vorbei. Vom Kriege gingen wir aus und endeten wieder beim
zerwühlt, an deren Seiten die Ueberreste der in Brand geschossenen Kriege. Was aber zwischen diesem Ausgangspunkt und Endziel

große Häuser stehen. Und zwischen diesen trostlosen Ruinen grüßen uns lag, das war ein kaleidoskopartiges Auflebenlassen großer deutscher
Theaterzeit.
rischen
traurig Gräber gefallener Russen, geschmückt mit einfachen Doppel
„Als der Krieg plötzlich aller künstlerischen Betätigung im
jaren, kreuzen.
öffentlichen Leben unfreiwillige Muße auferlegte," so etwa begann
Polen ist eine ungeheure aber auch fruchtbare Tiefebene
rote
ausgezeichnet für den Aufmarsch großer Truppenmassen. Polen, Steinrück, „da flüchtete ich mich in mein Tutzinger Häuschen und
sigen
irgs¬ welches heute ein Kriegsschauplatz ersten Ranges geworden ist, lag meiner anderen Kunst, der Malerei. Die Bilder an den
kleine war gestern noch das industriellste Land des gesamten russischen geänden sagen Ihnen wohl, daß ich wenigstens ein
ißiger Maler bin. Und ich habe, subjektiv gesprochen, in
Kaiserreichs. Warschau ist mit einem Gürtel großer Fabrikstätte
zählt umgeben, deren Namen dem deutschen Leser wenig bekannt sein dieser durch Deutschlands gemeinsame Erhebung hervor¬
ar sie dürften: Lodz, das polnische Manchester, mit seinen großen gerufenen, seelisch großen und tiefbewegten Stimmung wohl
t das Webereien, die zwar in deutschen Händen liegen, fabriziert jährlich die besten Bilder gemalt, die ich je geschaffen habe.
für mehr als 300 Millionen Kronen Stoffe, Tschenstakow (auch Als wir dann langsam und zögernd dazu übergingen, im
zuckt
Münchener Hoftheater wieder zu spielen, da erlebten wir die erste
ren Czenstochowa genannt). Kalisch, Kielce, Radom, Wloslaws
Piotzkow und Lublin sind keine polnischen Dörfer, sondern große Ueberraschung, daß patriotische Stücke und Stücke mit kriegerischem
Inhalt und Milieu kein Publikum fanden. Weder „Wallensteins
Industriezentren ersten Ranges. Daß Polen trotz der enorme
Lager noch „Robert Guiscard“ und „Colberg" behagten den
hrend
Industrie und seines Handels fast keine Verbindungswege hat,
Münchenern Lediglich nach guter, etwas komplizierter Literatur
ichten schuldet es seiner eigenen Geschichte.
Dann erscheinen auf meinem Wege Dörfchen mit den nied¬ ohne Anspielung auf Zeitereignisse verlangt die Gegenwart. Die
ver¬
lichen Holzhäuschen der polnischen Landbevölkerung. Sie sind Münchener Kammerspiele haben zum Beispiel jetzt bei Strindberg
traße meist niedergebrannt und alle envölkert. Und hier in diesem volle Häuser und bei uns im Hoftheater war Wedekinds „Der
göttergleichen Lande, das weder in der Sprache noch in den Marquis von Keith" Zugstück im besten Sinne des Wortes.
Hauptstationen meines Schaffens als Künstler waren
schen Sitten, weder in der Religion noch in der Tradition mit den
krieg, Moskowiten identisch ist, wird Rußlands Schicksal ent¬ Breslau, Berlin und München, aber eine Hauptstation meines
Lebens überhaupt war Wien; mit Wien verknüpfen mich ver¬
schieden werden. Eine Rache der Vorsehung jahrhundertelangen
wandtschaftliche Bande, denn meine Frau ist eine Schwägerin
ernen Knechtschaft.
Artur Schnitzlers. In Wien war ich bis jetzt als Künstler
Und neben der polnischen Bevölkerung des römisch-katholischen
inten
ch in Glaubens lebt eine jüdische Bevölkerung unter der gleichen rohen das heißt als gastierender Künstler zweimal, zuerst als Dr. Schin
Geißel des russischen Bären. In Warschau allein gibt es mehr in Wedekins „Erdgeist“, das zweitemal als Baumeister Solneß
von Ibsen, als Wozzek von Büchner, als Simson von Wedekind,
als 300000 Juden, in Lodz 100.000, während die 31.000 Ein
ihme
Viele wohner von Plotzk ganz israelitisch sind, wie noch so viele Städte als Paul Lange in „Paul Lange und Tora Parsberg
Neri in „Das Mahl
als
Björnson und
Nikita
und Dörfer im weiten Polenlande
Im Polenlande wird auch die barbarische, bestialische Wut der Spötter", von San Benetti. Wiens Presse und Wiens
steilen
Publikum haben mich gelobt, gefeiert. Als Mensch aber komme
bepackt der Russen, mit der sie Polen wie Juden behandelten, zer
dann schmettert werden, und den gewaltigen, blutrünstigen, grausamen ich alle Jahre nach Wien, das mir als Maler in seiner Um¬
Moloch zugrunde richten. Weiß man in den politischen Kreisen gebung immer neue, vorher nie gesehene Reize enthüllt. In
lettern
Artur Schnitzler achte und liebe ich einen Menschen von
hr mit Petersburgs nur zu gut, daß ein Sieg Deutschlands die Freiheit
Polens und Finnlands aus einer rohen Gewalt der Mongolenhorde unbeschreiblicher Innerlichkeit. Als ich zum erstenmal in Wien
weilte, bin ich mit Artur Schnitzler ein paar Stunden durch den
miertel nach sich gegen