VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 6

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Miscellaneous
wahr)
somit aus: Leipziger glatt,
Leipzig
Die geistige Waffenbrüderschaft
Von Franz Servaes.
Das Bund ist hier am engsten. Hier ist der Zwei¬
bund für alle Zeiten unwiderruflich beschworen.
Oder vielmehr, es gibt hier nur einen Einbund.
Allerdings mit verschiedenen Schattierungen.
Und das soll so sein. Die Verschiedenheit ist
uns nicht minder wichtig als die Einheit. Sie geben
einander erst gegenseitig ihren Wert. Das Ge¬
meinsame versteht sich im Grunde von selber die
deutsche Seele, die deutsche Sprache, der deutsche
Geist. Die Verschiedenheit aber besteht in der Form,
durch die das jeweilige Volkstemperament sich seine
Ausdrucksmittel schafft.
In diesem Sinne, und nur in diesem, kann man
von einer österreichischen Literatur reden. Sowie
man von einer mecklenburgischen, rheinischen, schwei¬
zerischen oder — berlinischen Literatur reden kann
Zwar betrachtet sich Berlin gerne als Zentrum. Das
ist es aber nur im Sinne der Organisation. In der
Produktion ist es genau so gut eine Provinz für
sich wie alle andern deutschen Landschaften (wenn
ich Berlin hier für einen weiteren Kreis von Nord¬
deutschland setze). Ein Zentrum für die deutsche
Produktion, das gibt es nicht — kann es nach der
Beschaffenheit des deutschen Geistescharakters nie¬
mals geben. Hier ist alles Provinz — so hart das
auch klingen mag. Es braucht aber nicht hart zu
klingen, wofern man es nur richtig versteht.
So steht das österreichische Schrifttum selbstbe¬
rechtigt neben jedem anderen deutschen Schrifttum.
Aber nicht starr=abgeschlossen und geschieden, sondern
in lebendigster, fruchtbarster Wechselwirkung. Erst
diese Wechselwirkung macht ja das Ganze, macht
unseren unvergleichlichen Reichtum.
Nord und Süd, indem sie einander beschenken,
geben im Grunde nur gegenseitig zurück. Fast möchte
ich, statt Nord und Süd, noch lieber Protestantis¬
mus und Katholizismus sagen. Wenigstens erklärt
dies am ehesten, weshalb der Norden in sich die
Berechtigung fühlt, sich in mancher Hinsicht als gei¬
stiger Fuhrer zu betrachten. Zweifellos ging ja die
geistige Bewegung, die das gegenwärtige deutsche
Kulturbewußtsein schuf, von protestantischer Seite
aus. Fast alles, was das in dieser Hinsicht grund¬
legende achtzehnte Jahrhundert schuf, wurzelt im
protestantischen Gedanken. Lessing und Herder,
Goethe und Schiller, auch Kleist und Hebbel konnten
nur aus protestantischem Boden und in protestanti¬
scher Atmosphäre erwachsen. Doch schon bei Hebbel
machen wir die bedeutsame Beobachtung, daß er
im katholischen Oesterreich die Blüte seiner Schaf¬
fenskraft, die lang ersehnte innere Beruhigung fand.
Es wäre nicht uninteressant, einmal festzustellen,
was Hebbel Oesterreich zu verdanken hat. Und
man könnte dann auch auf die eigentümliche Paral¬
lele hinweisen, die Johannes Brahms hierzu bietet.
Und bei Brahms wiederum hätte man auf Beet¬
hoven zu verweisen. Vielleicht käme man dann zu
dem Grundresultat, daß der Norddeutsche und Pro¬
testant in Oesterreich die Heimat der Musik suchen
geht. Musik als Symbol und im weitesten Sinne
genommen.
Was aber suchte der Katholik und Oesterreicher
Grillparzer im Norden? Ich meine hier natürlich
nicht seinen kurzen körperlichen Besuch in Weimar,
sondern sein bewußtes und gläubiges Wohnen in
der ihm von Goethe und Schiller bereiteten geistigen
Heimat. Mit Grillparzer jedenfalls trat der bis
dahin abseits stehende österreichisch-südliche Katholi¬
zismus in die große deutsche, bis dahin vorwiegend
protestantische Geistesbewegung ein. Hierdurch be¬
deutet dieses Eintreten nicht mehr und nicht weniger
als ein Niederreißen hemmender Schranken. Grill¬
parzer, der in einer Fülle von Einzelzügen so ty¬
pisch=österreichisch ist, in seinem Besten wie in seinem
Schlechtesten, er ist doch in Wahrheit unter seinen
Landsleuten der erste starke großdeutsche Poet. Bis
dahin besaß Wien eigentlich bloß eine Lokallite¬
ratur. Von jetzt ab wandte es sich mit mächtiger
Stimme und voll inbrünstigen Werbens an das
großdeutsche Gesamtpublikum. Es hatte seinen
Willen und zugleich seinen Beruf bekundet, mitzu¬
tun. Das gelang ihm in solchem Maße, daß in
der Folgezeit selbst eine aufs schärfste herausgear¬
beitete, bis ins Mundartliche gehende lokale Eigen¬
Aus dem Aprilheft der Zeitschrift „Der Kunst¬
Zeitschrift der Vereinigung der Kunst¬
freund“
-
art den Anschluß an die großdeutsche Literatur be¬
starken Talenten nicht zu hindern vermochte. Die
beweisen allein schon die drei Namen: Raimund
Nestroy, Anzengruber. Man möchte diesen dre
gegenüber sagen; je österreichischer, desto deutscher
Das ist es wohl, was Oesterreich unserer Dicht
kunst in besonderem Maße gebracht hat; das voller
und innigere Aufgehen im Volkstum, das festere
Wurzeln im Volksboden. Ist nicht schon Grillparzer
ein viel entschiedener Oesterreicher als etwa Goethe
Franke oder Schiller Schwabe? Wir haben seitdem
begonnen, uns landschaftlich feiner und bewußter zu
differenzieren. Einkehr ins Volkstum war schon
eine Forderung der Romantiker. Doch es wurde bei
ihnen meist eine Einkehr ins Wolkenkulkuasheim.
Das Romantische mit dem Wahrhaft=Volksmäßigen
zu verbinden, gelang erst dem Genie Raimunds. Er
ist in dieser Hinsicht ein Vorläufer Gerhart Haupt¬
manns und vielleicht dessen organischster Widerpart.
In „Hannele", „Schluck und Jau“, „Pippa tanzt
schimmert Raimundsches Gold. Doch auch die andere
Seite bei Hauptmann, das Volkshaft=Realistische
findet in Oesterreich Vorbild und Ebenbild. Man
braucht nur an Anzengruber, Rosegger, Schönherr
zu denken.
Eine zweite Linie österreichischer Wortkunst geht
auf das Artistisch=Verfeinerte. Altklassische und
romanische Einflüsse verschlingen sich hier und wer¬
In Saars
den schon bei Grillparzer bemerkbar.
Lyrik finden sie ihre Fortsetzung: bei Hofmannsthal
erhalten sie ihre programmatische Prägung; den
feinsten Extrakt gab dann Rilte. Wie schulbildend
diese Richtung gerade in Oesterreich, bis ins
Feuilleton hinein, gewirkt hat, lehrt uns jeder Tag.
Auch die norddeutsche Prosa und Lyrik sind davon in¬
filtriert worden; nicht immer zu ihrem Vorteil
(„die Dichter, welche österreicheln"). Das stärkere
Gefühl für Form, das geschärftere Ohr für Wohl¬
klang und Rhythmik sind südliche Elemente, die auf
dem Weg über Oesterreich hoffentlich noch einmal zu
deutschen Tugenden werden. Fand doch dafür die
nordische Psychologie eines Ibsen durch Schnitzer /
Heimatrecht auf Wiener Boden und, mit pariserischen
Einschlägen vermischt, eine höchst charakteristische
lokale Gestaltung. Als Vermittlernatur schärfster
Prägung, hüben und Prüben und in aller Welt
heimisch, läßt Hermann Bahr seine Stimme er¬
schallen, ein wirksamster Sauerteig=Umrührer. Er
lehrte Oesterreich österreichisch sein und hat gleich¬
zeitig die Fäden, die zu Deutschland führen, aufs
festeste geknüpft.