box 41/5
1. Miscellaneous
Schermann.
Glossen zu merkwürdigen Vorführungen.
Von
Stefan Großmann.
Der Mann ohne Vornamen käme zur rechten Zeit. Zwar halten
wir durch — auch ohne durch eine von der Natur übersehene
Ritze im Gartenzaun der Gegenwart in die Zukunft zu blinzeln,
aber es gäbe etliche Diskussionen, die ein Wahrträumer oder
Hellseher oder Durchschauer mit seinem Spruch endlich beschließen
könnte... Allerdings, Erörterungen des Kriegsziels sind unter¬
sagt! Nun, wir würden uns auch mit bescheideneren Enthüllungen
begnügen. Wenn Goethe an Hellseher geglaubt hat, weshalb soll
es uns kleinen Köpfen verboten sein? Wer erinnert sich nicht
mit leisem Entzücken an den „Blumenwechsel in den Erläute¬
rungen zum westöstlichen Divan, worin Goethe von einer Luftfahr
zweier liebender Paare erzählt, die einander Charaden aufgaben,
gar bald wird nicht nur eine jede, wie sie vom Munde kommt,
sogleich erraten, sondern zuletzt sogar das Wort, das der andere
denkt und eben zum Worträthsel umbilden will, durch die un¬
mittelbarste Divination erkannt und ausgesprochen“. Aber
freilich, auf dieser Insel der Seligen war die göttliche Ein¬
gebung selbstverständlich. Goethe hat aber auch in weniger
trunkenen Stunden, wie man aus seiner Autobiographie weiß, an
pisionäres Fernsehen geglaubt. Und erst Schopenhauer! In dem
Versuch über Geistersehen“ hat der redlichste und tiefste Geist
Deutschlands ein außerordentliches Material über die Dinge auf¬
gestapelt, von denen Eure Schulweisheit sich nichts träumen läßt.
Merkwürdig, sein stärkster Beleg hat auch galanten Anstrich,
Schopenhauer erzählt da: „Meine schöne Wirtin in Mailand vor
langen Jahren fragte mich in einem sehr animierten Gespräch bei
der Abendtafel, welches die drei Nummern wären, die sie als Terne
in der Lotterie belegt hatte. Ohne mich zu besinnen nannte ich die
erste und die zweite richtig, dann aber, durch ihren Jubel stützig
geworden, gleichsam aufgeweckt und reflektierend, die dritte falsch.
Man geht also zu der Veranstaltung des „Schutzverbandes deutscher
Schriftsteller“, in der Dr. Robert Scheu Herrn Schermann
er hat wie alle echten Phänomene keinen Vornamen oder
trägt ihn wenigstens nicht — mit willig gestimmten Gemüt
man nimmt sich vor, den Durchschauer womöglich nicht aufzu¬
wecken.
Schermann ist ein kleines, mageres, zartes Männchen. Sieht aus
wie ein Versicherungsbeamter (der er auch ist). Keine okkultistische
Frisur, ein natürliches Schnurbärtchen, ein wenig abstehende Ohren.
Es gewinnt, daß das Phänomen keinen Fiduskopf und nicht das
abgezehrte Heiligengesicht der Prärafaeliten anstrebt. Er ist ein
Vorführer
scheuer als Scheu,
wenig scheu
— er flüstert, aber er redet im natürlichsten Leopold¬
städter Wiener Dialekt, mit einer gewissen Abneigung
Also nicht einmal sprachlich
gegen reine Trüblaute.
macht er sich besser als er ist. Man begreift, daß dieser sensitive
kleine Mensch am liebsten nur im kleinen Kreis tätig ist und daß
ihn Berlin, der norddeutsche Zweifel und eine vielhundertköpfige
Versammlung irritieren.
Im Kleinen Komitee, so erzählten glaubwürdige Zeugen, hat
er vormittags ganz wunderliche Dinge aus vorgelegten Hand¬
schriften erraten. Man gab ihm einen Brief von Erich Schmidt,
und seine Hand vollführte unwillkürlich jene unnachahmliche,
schwungvolle Geste, die ein Stück von Erich Schmidts Vortrags¬
kunst war. Man zeigt ihm Schriftzüge von Karl Scheffler, und
er sagt: „Ich höre hämmern, hier werden Bilder angehängt."
Immerhin, Erzählungen, seien es Erzählungen der Verlä߬
lichsten, wir wollen sehen, wie man hellsicht! Vor uns!
Nachmittags. Ein Zirkel von fünfzig Leuten. Dr. Robert Scheu
erzählt verblüffende Dinge. Schermann habe nicht nur aus der
Schrift den Charakter des Schreibers herausgelesen, sondern auch
umgekehrt, synthetisch zu bestimmten Charakteren die ihnen
eigene Handschrift gefunden und niedergeschrieben. Aber ....
schließlich ist es das Geschäft eines Feuilletonisten, zu verblüffen.
Wir wollen sehen, wie man hellsieht... Der große Zirkel liegt
Schermann auf den Nerven. Es bleibt nur eine kleine Kom¬
mission um ihn, der Prof. Dessoir, Prof. Eulenburg und einige
andere scharfe Zuschauer angehören. Man legt ihm unterschrift¬
lose Briefe vor, Briefe von Stefan Pichon, von einer jungen
Dame, das Kuvert eines Briefes von Siegfried Jakobsohn. Ueber
Pichon sagt er sogleich Verblüffendes, über die junge Dame, daß
sie 42 Jahre alt sei, sonst aber ein im großen richtiges seelisches
Porträt, von Jakobsohn erzählt er, daß er ein starker Bejaher,
eine weiche Natur, ein Mensch mit einem vergangenen
Groll, ein freudiger Esser sei. Professor Dessoir konstatiert,
daß Jakobsohn gerade einer der stärksten Verneiner sei, und blickt ein
bißchen triumphierend umher. Aber sind denn nicht die
starken Verneiner auf die starken Bejaher? Professor Dessoir
findet, daß Schermann eine ungewöhnliche graphologische Begabung
sei. Hellsehertum hat er nicht bei ihm gefunden. Die Graphologen
aber rüsten sich zum großen Entscheidungskampf, abends in der
Versammlung.
Diese Versammlung (im Brüdersaal) war denkwürdig. Man
hat wohl kaum je eine Versammlung mit so raffiniert schlechten
Ausschnitt aus:
vom 3. 5. 1915
Rednern zustande gebracht. De¬
Schermann sehen, zusehen, wie
ein Herr Sachs, der die Trieb¬
ausgemerzt hat und den Leop.
mit einer Ungeniertheit redet:
der Praterstraße. Dazu sollten
Aber es fehlte eine Lampe,
andern fehlte die Erläuterung,
gereizt, unterbrach mit Recht un
ein Zuschauer: „Was ist der le
geheul. Dann ruft jemand plötz
Schermann vorzustellen!" D
läuten. Weit und breit keine
einem Nebenraum eine kleine
manns. Sie tritt unter Lud¬
ohne den Satz, ohne das Wor
Herr Sachs ab: „Bitte, Licht!"
Geistesgegenwart, dann zieht
Dr. Ludwig Fulda erzählt
Chinin-Rezept gegeben. Darau
der Seele, ein sehr vorsichtiger
hat, seine Umgebung zu beruhig
um ihn. Das Rezept war vor I
geschrieben, der ja wirklich ein
wissen seine Bekannten, eine mer
hörten die Leute, daß Scherma¬
Augenblick Applaus, Jubel, Zu
kletterte auf die Tribüne — es
dem Podium, den ganzen Abend
Graphologie, und die deutschen
alles ebenso gut, nur nach wis
Protest, Zwischenrufe, und —
Dann aber sollten die Leute
wie man hellsah. Schermann u.
vorbereitet, der von Harden he
Tafel geschrieben werden, aber
tollen Abend und brach. Da¬
eingeführt und las mit gesenkt
Handschrift: „Scharfe Zunge, tr
einem König, sehr selbstbewußt,
Wort ab, kann die Menschen
glänzender Beobachter,
führt alles durch, was
in punkto Kleidung. Ein M
lieber selbst hineinlegt, stolz au
Das war nun verblüffend, be¬
1. Miscellaneous
Schermann.
Glossen zu merkwürdigen Vorführungen.
Von
Stefan Großmann.
Der Mann ohne Vornamen käme zur rechten Zeit. Zwar halten
wir durch — auch ohne durch eine von der Natur übersehene
Ritze im Gartenzaun der Gegenwart in die Zukunft zu blinzeln,
aber es gäbe etliche Diskussionen, die ein Wahrträumer oder
Hellseher oder Durchschauer mit seinem Spruch endlich beschließen
könnte... Allerdings, Erörterungen des Kriegsziels sind unter¬
sagt! Nun, wir würden uns auch mit bescheideneren Enthüllungen
begnügen. Wenn Goethe an Hellseher geglaubt hat, weshalb soll
es uns kleinen Köpfen verboten sein? Wer erinnert sich nicht
mit leisem Entzücken an den „Blumenwechsel in den Erläute¬
rungen zum westöstlichen Divan, worin Goethe von einer Luftfahr
zweier liebender Paare erzählt, die einander Charaden aufgaben,
gar bald wird nicht nur eine jede, wie sie vom Munde kommt,
sogleich erraten, sondern zuletzt sogar das Wort, das der andere
denkt und eben zum Worträthsel umbilden will, durch die un¬
mittelbarste Divination erkannt und ausgesprochen“. Aber
freilich, auf dieser Insel der Seligen war die göttliche Ein¬
gebung selbstverständlich. Goethe hat aber auch in weniger
trunkenen Stunden, wie man aus seiner Autobiographie weiß, an
pisionäres Fernsehen geglaubt. Und erst Schopenhauer! In dem
Versuch über Geistersehen“ hat der redlichste und tiefste Geist
Deutschlands ein außerordentliches Material über die Dinge auf¬
gestapelt, von denen Eure Schulweisheit sich nichts träumen läßt.
Merkwürdig, sein stärkster Beleg hat auch galanten Anstrich,
Schopenhauer erzählt da: „Meine schöne Wirtin in Mailand vor
langen Jahren fragte mich in einem sehr animierten Gespräch bei
der Abendtafel, welches die drei Nummern wären, die sie als Terne
in der Lotterie belegt hatte. Ohne mich zu besinnen nannte ich die
erste und die zweite richtig, dann aber, durch ihren Jubel stützig
geworden, gleichsam aufgeweckt und reflektierend, die dritte falsch.
Man geht also zu der Veranstaltung des „Schutzverbandes deutscher
Schriftsteller“, in der Dr. Robert Scheu Herrn Schermann
er hat wie alle echten Phänomene keinen Vornamen oder
trägt ihn wenigstens nicht — mit willig gestimmten Gemüt
man nimmt sich vor, den Durchschauer womöglich nicht aufzu¬
wecken.
Schermann ist ein kleines, mageres, zartes Männchen. Sieht aus
wie ein Versicherungsbeamter (der er auch ist). Keine okkultistische
Frisur, ein natürliches Schnurbärtchen, ein wenig abstehende Ohren.
Es gewinnt, daß das Phänomen keinen Fiduskopf und nicht das
abgezehrte Heiligengesicht der Prärafaeliten anstrebt. Er ist ein
Vorführer
scheuer als Scheu,
wenig scheu
— er flüstert, aber er redet im natürlichsten Leopold¬
städter Wiener Dialekt, mit einer gewissen Abneigung
Also nicht einmal sprachlich
gegen reine Trüblaute.
macht er sich besser als er ist. Man begreift, daß dieser sensitive
kleine Mensch am liebsten nur im kleinen Kreis tätig ist und daß
ihn Berlin, der norddeutsche Zweifel und eine vielhundertköpfige
Versammlung irritieren.
Im Kleinen Komitee, so erzählten glaubwürdige Zeugen, hat
er vormittags ganz wunderliche Dinge aus vorgelegten Hand¬
schriften erraten. Man gab ihm einen Brief von Erich Schmidt,
und seine Hand vollführte unwillkürlich jene unnachahmliche,
schwungvolle Geste, die ein Stück von Erich Schmidts Vortrags¬
kunst war. Man zeigt ihm Schriftzüge von Karl Scheffler, und
er sagt: „Ich höre hämmern, hier werden Bilder angehängt."
Immerhin, Erzählungen, seien es Erzählungen der Verlä߬
lichsten, wir wollen sehen, wie man hellsicht! Vor uns!
Nachmittags. Ein Zirkel von fünfzig Leuten. Dr. Robert Scheu
erzählt verblüffende Dinge. Schermann habe nicht nur aus der
Schrift den Charakter des Schreibers herausgelesen, sondern auch
umgekehrt, synthetisch zu bestimmten Charakteren die ihnen
eigene Handschrift gefunden und niedergeschrieben. Aber ....
schließlich ist es das Geschäft eines Feuilletonisten, zu verblüffen.
Wir wollen sehen, wie man hellsieht... Der große Zirkel liegt
Schermann auf den Nerven. Es bleibt nur eine kleine Kom¬
mission um ihn, der Prof. Dessoir, Prof. Eulenburg und einige
andere scharfe Zuschauer angehören. Man legt ihm unterschrift¬
lose Briefe vor, Briefe von Stefan Pichon, von einer jungen
Dame, das Kuvert eines Briefes von Siegfried Jakobsohn. Ueber
Pichon sagt er sogleich Verblüffendes, über die junge Dame, daß
sie 42 Jahre alt sei, sonst aber ein im großen richtiges seelisches
Porträt, von Jakobsohn erzählt er, daß er ein starker Bejaher,
eine weiche Natur, ein Mensch mit einem vergangenen
Groll, ein freudiger Esser sei. Professor Dessoir konstatiert,
daß Jakobsohn gerade einer der stärksten Verneiner sei, und blickt ein
bißchen triumphierend umher. Aber sind denn nicht die
starken Verneiner auf die starken Bejaher? Professor Dessoir
findet, daß Schermann eine ungewöhnliche graphologische Begabung
sei. Hellsehertum hat er nicht bei ihm gefunden. Die Graphologen
aber rüsten sich zum großen Entscheidungskampf, abends in der
Versammlung.
Diese Versammlung (im Brüdersaal) war denkwürdig. Man
hat wohl kaum je eine Versammlung mit so raffiniert schlechten
Ausschnitt aus:
vom 3. 5. 1915
Rednern zustande gebracht. De¬
Schermann sehen, zusehen, wie
ein Herr Sachs, der die Trieb¬
ausgemerzt hat und den Leop.
mit einer Ungeniertheit redet:
der Praterstraße. Dazu sollten
Aber es fehlte eine Lampe,
andern fehlte die Erläuterung,
gereizt, unterbrach mit Recht un
ein Zuschauer: „Was ist der le
geheul. Dann ruft jemand plötz
Schermann vorzustellen!" D
läuten. Weit und breit keine
einem Nebenraum eine kleine
manns. Sie tritt unter Lud¬
ohne den Satz, ohne das Wor
Herr Sachs ab: „Bitte, Licht!"
Geistesgegenwart, dann zieht
Dr. Ludwig Fulda erzählt
Chinin-Rezept gegeben. Darau
der Seele, ein sehr vorsichtiger
hat, seine Umgebung zu beruhig
um ihn. Das Rezept war vor I
geschrieben, der ja wirklich ein
wissen seine Bekannten, eine mer
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Augenblick Applaus, Jubel, Zu
kletterte auf die Tribüne — es
dem Podium, den ganzen Abend
Graphologie, und die deutschen
alles ebenso gut, nur nach wis
Protest, Zwischenrufe, und —
Dann aber sollten die Leute
wie man hellsah. Schermann u.
vorbereitet, der von Harden he
Tafel geschrieben werden, aber
tollen Abend und brach. Da¬
eingeführt und las mit gesenkt
Handschrift: „Scharfe Zunge, tr
einem König, sehr selbstbewußt,
Wort ab, kann die Menschen
glänzender Beobachter,
führt alles durch, was
in punkto Kleidung. Ein M
lieber selbst hineinlegt, stolz au
Das war nun verblüffend, be¬