VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 15

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1. Miscellaneous
voll neuer Beziehungen auf unsere neue Zeit. Welch ein
Jammer (freilich beinahe bestimmt voraussehbar, daß diese
Aufführung so ganz und gar abfiel!
Die Götzform, die wir gestern sahen, hat mit allen
Mitteln getrachtet, das Drama des Ritters mit der
eisernen Hand aus all dem vielen Beiwerk, das durch
die mannigfachen Fassungen der Dichtung hinzugekommen
ist, herauszuschalen. Nicht zuletzt wurde dies dadurch
erreicht, daß der dramatische Gegensatz zu dem biederen
Götz=Gedanken, nämlich das Drama Weislingen schärfer
herausgehoben und ins Licht gestellt wurde. In dem Maße,
in dem Weislingen in seine Untreue verstrickt wird und
trotz scheinbarer Oberhand doch schließlich der Unterliegende:
pleibt, in eben diesem Maße hebt sich die ganze Größe des
einen Götz aus all seinem Ungemach zu sieghaftem
lebergewichte empor. Und was wir von den neuen
Beziehungen des Dramas zu unserer neuen Zeit sagten:
REICHSPOST, WIEN,
Ausschnitt aus:
Wahrhaftig! Solche unbeugsame, von ihrem besseren Fühlen
und Wissen beseelte Männer, solche Männer mit eisernen
NOS
vom
Fäusten, hat sie unsere Zeit nicht in hunderttausend
Gestalten wieder erlebt? Solchen Männern, die ingrimmig
lachen, wenn ihnen das Nahen einer zehnfachen Uebermacht
gemeldet wird, die sich ihr ohne einen Augenblick des Zagens
Theater, Kunst, Musik.
entgegenwerfen, begegnen wir solchen feldgranen Männern
nicht tausendfach: Vor allem aber: In einem beginnenden
Der neue „Götz".
Wandel, in einer gewaltigen Verschiebung der Kräfte das
als wahr erkannte Alte verteidigen, mit hohem Mut, mit
Das gestrige Burgtheaterereignis.
wildem Trotz und ingrimmiger Unablässigkeit dafür ein¬
Diese „Götz-Aufführung, die gestern eine halbe Stunde
stehen.... ist das nicht heute wieder wie nur
vor Mitternacht zu Ende war und deren Gäste die Straßen¬
einst, und je die Tat unserer Besten geworden
bahn schon im Sonderwagen heimbefördern mußte, war ohne
Auf Schritt und Tritt offenbaren sich nun in
Zweifel ein Ereignis in der Theaterstadt Wien. Eines von
fast eineinhalb
dem Drama Goethes, das nun
jenen Ereignissen, bei denen dabeigewesen zu sein sozusagen
Jahrhunderte alt ist, die treffendsten Beziehungen zu den
zum guten literarischen Wiener Ton gehört, eines von jenen
Kampfe unserer Tage. Kein Literaturstäublein deckt für
Ereignissen, die wieder einmal ein volles Haus gebracht
lebendige Menschen von heute dieses lebendige Drama,
haben. Wohlgemerkt: Ein Ereignis nicht durch die neue
wenngleich mancherlei darin nur zu verstehen ist, wenn man
wissenschaftlich interessante „Götz=Form, welche aus der
sich ganz in den Geist seiner Entstehungszeit und seines
Zusammenziehung aller Goetheschen Götzfassungen ent¬
Dichters hineinzudenken vermag. So fällt ein Dutzendmal
ein Ereignis nicht dadurch,
standen
Herr Reimers das Erbe Baumeisters in der Titelrolle an das Wort „Pfaff, und ein wenig kindisch mutet es an,
wenn in so hoher dichterischer Umgebung kein treffenderes
getreten hat, auch nicht ein Ereignis dadurch, daß
Wort zur Hand ist, um Bosheit, Tücke, Falschheit zu kenn¬
meisten Rollen überhaupt neu und mit neuen Leuten besetzt
waren, sondern ganz einfach ein Ereignis dadurch, daß zeichnen. Hier zeigt sich der Goethe des Urgötz, jenes dreiund¬
zwanzigjährige, dichterisch explosive, allein gedanklich noch recht
überhaupt wieder einmal nach zehnjähriger Pause der
unklare Genie, dessen Ausschreitungen eine klügere Regie wohl
„Götz" auf die Hofbühne gekommen ist. Und dies ist der
mit ruhigem Gewissen hätte Einhalt tun können, selbst wenn
Schatten, der auf das Ereignis fällt: Man muß heute die
dies auf Kosten der historischen Korrektheit des Bühnentextes
Tage, an denen dieses Theater den Klassikern gewidmet
gegangen wäre. Indessen ist ja katholisches Wesen zu
ist, förmlich rot anstreichen, man muß sie besonders
schützen, katholischen Besitzstand des Gemutes zu wahren
feiern und in jeder Klassikeraufführung förmlich ein
der heute am Burgtheater herrschende Geist nicht geneigt
sensationelles Ereignis erblicken. Und doch sollten die
und so verschanzt sich denn die Regie in diesem Belange
paar klassischen Stücke unseres deutschen Bühnen¬
wohl mit Behagen hinter die Erfordernisse der textlichen
besitzes ohne jegliche Unterbrechung zum eisernen
Manuskriptreue
Bestande der Hofburgtheaters gehören. Wenn Neubesetzungen
Was nun die technische Seite der Aufführung anbe¬
notwendig sind, so sollten sie ganz automatisch, ganz un
langt: Eine rasche Folge schön gestellter Bilder, auf der
merklich vor sich gehen. Mit einem Wort: Es soll keine
Sensation abgeben, wenn im Burgtheater „Götz" gespielt Drehbühne mit kaum minutenlangen Pausen in den Raum
gerückt. Bilder von enger, aber tadelloser Schönheit.
wird. Die Freude, daß wir ihn nun wieder haben, wird
Eines davon ist ein Erlebnis: Der Wachturm, durch dessen
ganz wesentlich beeinträchtigt durch den gewiß sehr be¬
Fenster man auf ein blaues Meer wogender Waldwipfel
rechtigten Aerger darüber, daß wir ihn so lange Zeit über
hinuntersteht, auf denen ein Sommertag seinen ganzen
nicht mehr hatten. Wer dafür verantwortlich zu machen
Glanz und Schimmer webt. Die Bilder stammen von Pro¬
ist, daß unserer Hofbühne die selbstverständlichsten Auf¬
fessor Roller, dem feinfühligsten Bühnenmaler, den das
gaben verdunkelt werden, daß sie erst einer besonderen
Theater seit langem gehabt hat.
Kraftanstrengung, eines gewaltsamen Zusammenraffens
Darstellerisch hatte das Burgtheater gestern vollen
ihrer künstlerischen Energie bedarf, um das zu vollführen
einen Ehrenabend ohne gleichen. Der Götz des Herrn
was ihre selbstverständliche Aufgabe ist und ohne wochen¬
Reimers hielt sich in höchster Ebenbürtigkeit aufrecht
lange Vorankündigung getan werden sollte, daß sie das
neben der vergleichenden Gegenüberstellung der einzigen
was ihr als Regel obliegt, zur ruhmredigen Ausnahme
uns Jüngeren geläufigen Götz=Tradition: Baumeister. Er
macht, wissen wir nicht. Dies eine aber ist klar: Für ein
war von einer wunderbar klaren Güte, von einer durch
Theater, das sein Ziel darin erblickt, Schnitzlerischen Schmu¬
Gutherzigkeit gebändigten Kraft, von einem so starken, schlich¬
und Schönherrsche Erotik möglichst künstlerisch in Bühnen¬
ten Wesen, wie man es sich nur immer zu wünschen vermag.
kunst umzugestalten, für ein solches Theater ist Goethe
Wie denn überhaupt die größten Tage dieses Künstlers jetzt
freilich eine Ausnahme, die man einmal in zehn Jahren
zu strahlen beginnen, jetzt, da er in ergrauendem Haare das
macht, die man viele Monate vorher umfangreich ankündigt —
und von der man bald wieder abrückt. Dies ist das retorisch polternde seiner bisherigen Tätigkeit allgemach
ablegen und sich dem verklärenden Schimmer reiferen
schmerzliche gewesen an dem gestrigen Abend, daß er ein
Menschentumes erschließen wird. Dies wurde uns gestern
Ereignis war. Das ist das Traurige an diesem Theater
deutlich bewußt, als wir ihn neben dem Weislingen des
Daß alles Große, was sich auf ihm zeigt, gleich wie ein
Gerrn Walden stehen sahen, der noch ziemlich weit von
Gipfel aufragt aus seiner Fläche, deren stumpfe Niedrigkeit
jenem tiefmenschlichen Künstlersein mitten im Artistischen
dadurch sinnfälliger wird denn je. Und noch ein Zweites
steht, als ein großer Könner, aber kein Versteher. Seine
war traurig gestern abend: Die Aufführung schlug nicht
Sterbeszene ist ein schauspielerisches Meisterstück und läßt
ein! Mit unsäglicher Mühe auf die Beine gebracht, mit
doch so ganz kalt! Fräulein Wohlgemut als Adelheid
allem Fleiß und aller erdenklicher Sorgfalt vorbereitet, von
brachte eine Enttäuschung, die nicht ihr zur Last fällt,
allen ersten Kräften der Hofbühne gefördert, schlug sie
sondern dem Regisseur, der sie an falsche Stelle setzte. Wir
dennoch nicht ein! Fünfundzwanzig Szenen gab es und
glauben, sie wäre eine ganz vortreffliche Maria gewesen. Der
wohl zehnmal ging der Vorhang nieder, ohne daß sich auch
Georg des Herrn Romberg war frisch und voll treu¬
nur eine einzige Hand zum Beifalle gerührt hätte! Die
herziger Jugendlichkeit, doch rein äußerlich vielleicht doch ein
Den
anderen Male gab es einen ganz dünnen Beifall.
einzigen, wirklich nennenswerten Beifall des ganzen, vier wenig zu erwachsen. Frau Bleibtreu und Medelske