VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 19

1.
box 41/5
Miscellaneous
Ausschnitt aus: Schlesische Zeitung, Bresla¬
28012191.
vom
Kaffeehausdämmerung.
b. Man schreibt uns aus Wien: Wenn jetzt nicht Weltkrieg
wäre, würde ich diesen Aufruhr in den Wiener Gewohnheiten,
diesen Umschwung unseres ganzen Lebens, daß es ab 1. Januar
1916 von 2 bis 7 Uhr nachmittags keinen Milchkaffee mehr in den
Kaffeehäusern gibt, sicher als das größte Ereignis „ab urbe con¬
dita" seit der Gründung Wiens ansehen. Wenn jetzt nicht Welt¬
krieg wäre... Aber ich glaube, dann hätten wir ihn ja weiter
behalten, den „Milchkaffee“. „Milchkaffee“, ich muß lachen: als
ob es so etwas überhaupt jemals in Wien gegeben hätte! Kein
Wiener hat jemals einen Milchkaffee getrunken, sondern eine
„Melange". Und eigentlich auch das nicht: Die Wiener „Kaffee¬
sieder“ verstanden aus den zwei Elementen Milch und Kaffee eine
solche Unzahl von Mischungen herzustellen, daß jede Individuali¬
tär, jedes Temperament, jeder von den zwei Millionen Wiener
Charakteren sein besonderes Jausgetrank vorgesetzt bekam.
„Ein Schalerl, extra für Ihnen, Herr von Hubinger." Also bitte,
Milchkaffee: erstens, das Milchverhältnis — da gab es „Obers
gespritzt (ein Glas Milch, nur ein paar Tropfen Kaffee!), dann
in immer dunklerer Skala — „Melange mehr Licht" „Melange
mehr dunkel", „Schale Gold", „Schale Braun" und endlich „Kapu¬
ziner“, so genannt nach den Kutten der Kapuzinermönche, das
Gegenstück zu „Obers gespritzt, zweitens — wir sind noch lang
nicht fertig! — je nach den Hautverhältnissen: „Eine Schale Haut“
„Eine Schale passiert" (d. h. die Milch durch ein Teesieb gegossen,
so daß nur ganz seine Milchhautteilchen in die Schale liefen) und
endlich fein passiert", drittens aber: ist es durchaus nicht das¬
selbe, woraus man seinen Kaffee trinkt! Ich sah Leute mit einem
echten, unverfälschten Wolterschrei aufschluchzen: „Ich habe doch
gesagt: „Ein Glas Kaffee“, und jetzt bringen Sie mir eine Schale!
Aber gehens..." Oder: Es gab Leute, die den Kaffee nur aus
Teeschalen trinken konnten. Oder: Es gab Leute... Ach, das
Herz wird mir schwer, wenn ich daran denke, daß der eine Feder¬
strich der Statthaltereiverordnung so viele Individualitäten ein¬
Es bleibt dabei: In einem Wiener Kaffee¬
fach wegstreicht...
haus wird man künftig nur mehr Tee bekommen; ist das auszu¬
denken? Es ist ja ein Bruch mit allen Alt=Wiener Sitten und
Traditionen. Das Wiener Kaffeehaus hat nämlich gleichsam seine
hochpolitische und diplomatische Grundlage. Seit den Zeiten des
guten Franz Georg Kolschitzky, des ersten Wiener Cafétiers, der
auf der Wiener Hauptstraße ein richtiges Denkmal mit Kaffee¬
kanne und Kaffeetasse hat und sich in wichtiger politischer Mission
während der Türkenbelagerung hochverdient machte, ist die Ge¬
schichte des Wiener Kaffeehauses ganz einfach die Ge¬
schichte Wiens, seiner Kunst, Politik und Literatur. Schon zur Zeit
Karls VI., des Vaters Maria Theresias, fanden sich die „Novel¬
listen“, das sind die Neuigkeitsvermittler, in den Kaffeehäusern zu¬
sammen. Das Kaffeehaus spielte im Kongreß seine Rolle, es
vereinigte — auf dem Mehlmarkt — Grillparzer, Schubert, Bauern¬
feld, Stifter und später — Café Griensteidl — die Wiener „Mo¬
derne", Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal und Beer=Hoffmann. Und
jetzt? Aus dem Kaffeehaus wird der Teesalon. Es gibt keine
Melange, keine Schale Braun, Gold oder Kapuziner mehr, keine
Kaffeehausliteraten und keine Kaffeehausstrategen. „O Schmerz!“
würde Heinrich ausrufen, der Zahlkellner jenes Kaffees Grien¬
steidl, der eine stehende Figur in den Werken des jungen Schnitzler,
Felix Dörmanns und aller anderen „Jung=Wiener aus dem „Café
Und nur der eine Trost:
Größenwahn war. „O Schmerz
die Milch, die so erspart wird, kommt Kindern und Kranken
zugute!
Boche.
sche Tageszeitung, Berlin
Kaffeehausdämmerung. Aus Wien wird uns geschrieben:
Wenn jetzt nicht Weltkrieg wäre, würde ich diesen Aufruhr in den
Wiener Gewohnheiten, diesen Umschwung unseres ganzen Lebens,
daß es ab 1. Januar 1916 von 2 Uhr bis 7 Uhr nachmittags keinen
Milchkaffee mehr in den Kaffeehäusern gibt, sicher als das größte
Ereignis seit der Gründung Wiens ansehen. Wenn jetzt nicht,
Weltkrieg wäre... Aber ich glaube, dann hätten wir ihn ja
weiter behalten, den „Milchkaffee“. „Milchkaffee“, ich muß lachen,
als ob es so etwas überhaupt jemals in Wien gegeben hätte!
Kein Wiener hat jemals einen Milchkaffee getrunken, sondern
eine „Melange". Und eigentlich auch das nicht: Die Wiener
„Kaffeesieder“ verstanden aus den zwei Elementen Milch und
Kaffee eine solche Unzahl von Mischungen herzustellen, daß jede
Individualität, jedes Temperament, jeder von den 2 Millionen
Wiener Charakteren sein besonderes Jausengetränk vorgesetzt be¬
kam. „Ein Schalerl, extra für Ihnen, Herr von Hubinger. Also

bitte, Milchkaffee: erstens, das Milchverhältnis — da gab es
„Obers gespritzt (ein Glas Milch, nur ein paar Tropfen Kaffee!),
dann — in immer dunklerer Skala — „Melange mehr Licht",
„Melange mehr dunkel“, „Schale Gold", „Schale Braun und end¬
lich „Kapuziner“, so genannt nach den Kutten der Kapuziner¬
mönche, das Gegenstück zu „Obers gespritzt; zweitens — wir sind
nach lang nicht fertig —: „eine Schale passiert" (d. h.: die Milch
durch ein Teesieb gegossen, so daß nur ganz seine Milchhautteilchen
in die Schale liefen) und endlich „sein passiert", dritten aber: ist
es durchaus nicht dasselbe, woraus man seinen Kaffee trinkt! Ich
sah Leute mit einem echten, unverfälschten Wolterschrei auf¬
schluchzen: „Ich habe doch gesagt: „Ein Glas Kaffee, und jetzt
bringen Sie mir eine Schale! Aber gehens ... Oder: Es gab
Leute, die den Kaffee nur aus Teeschalen trinken konnten. Oder:
Es gab Leute... Ach, das Herz wird mir schwer, wenn ich daran
denke, daß der eine Federstrich der Statthaltereiverwaltung so viele
Individualitäten einfach wegstreicht.
Es bleibt dabei: In einem Wiener Kaffeehaus wird man
künftig nur mehr Tee bekommen; ist das auszudenken? Es ist
ja ein Bruch mit allen Alt=Wiener=Sitten und Traditionen. Das
Wiener Kaffeehaus hat nämlich gleichsam seine hochpolitische und
diplomatische Grundlage. Seit den Zeiten des guten Franz Georg
Kolschitzky, des ersten Wiener Cafétiers, der auf der Wiener Haupt¬
straße ein richtiges Denkmal mit Kaffeekanne und Kaffeetasse hat,
und sich in wichtiger politischer Mission während der Türken¬
belagerung hochverdient machte, ist die Geschichte des Wiener
Kaffeehauses ganz einfach die Geschichte Wiens, seiner Kunst,
Politik und Literatur. Schon zur Zeit Karls VI., des Vaters
Maria Theresias, fanden sich die „Novellisten“, das sind die Neuig¬
keitsvermittler, in den Kaffeehäusern zusammen. Das Kaffeehaus
spielte im Kongreß eine Rolle, es vereinigte — auf dem Mehlmarkt
— Grillparzer, Schubert, Bauernfeld, Stifter und später — Café
Griensteidl — die Herren Schnitzler, Hofmannsthal und Beer¬
Hoffmann. Man sieht, wie das literarische Wiener Kaffeehaus im
Laufe der Zeit heruntergekommen ist — „und weiß doch selbst nicht
wie!“ Aus dem Kaffeehaus wird der Teesalon. Es gibt keine
Melange, keine Schale Braun, Gold oder Kapuziner mehr, keine
Kaffeehausdichterlinge und keine Kaffeehausstrategen. Und nur
der eine Trost: Die Milch, die so erspart wird, kommt Kindern und
Kranken zugute!