VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 32

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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus
in
vom

Bei Gertrud Eysoldt.
Ein Gespräch.
Mit Gertrud Eysoldt kam nicht nur eine besonders begabte
Schauspielerin auf die Bühne, sondern gewissermaßen eine neue
Frau, das Kind eines konfliktreichern, nervösern Zeitalters. Diese
Frau war in einigen Werken der dramatischen Dichtung bereits
umschrieben, in der Eysoldt aber erst fand sie die darstellerische
Stilisierung, ihre eigene Geste. Eine Grenze wurde von ihr er¬
weitert bis ins Gebiet des seelisch Abnormalen und einer subli¬
mierten Tragik hin. Es waren Frauen mit einem „eigenen
Seelenklima", wie man damals sagte, Revolutionierte, zu ihren
Urinstinkten Zurückgekehrte, von einem Gefühl, einer Idee
maniakalisch Besessene wie die rachsüchtige Elektra, die Frauen
Strindbergs und Wedekinds. Mit diesen Gestalten ist die Kunst
der Eysoldt unzertrennlich verbunden, wenn auch nicht erschöpft
Sie verfügt in ihrer seinen Weiblichkeit auch über weichere,
diskretere Töne, über eine unsagbare Anmut, die auch seelische
Noblesse auszusprechen weiß.
So wirkt auch das private Wesen Frau Eysoldis. Sie hat
im Gespräch nichts von der Schauspielerin und das Metier ist ihr
wie eine nebensächliche Angelegenheit. Schlicht wie ihre Kleidung
ist ihr Wort, das von Geist und Empfinden beseelt ist. Sie ist
eine mehr Ibsensche als Strindbergsche Frau, eine Suchende, ganz
in den geistigen Problemen der Zeit Lebende, der die Kunst
Priestertum bedeutet. Sie läßt sich eigentlich nicht ausfragen, sie
spricht zunächst das aus, was sie im Moment im tiefsten erfüllt.
So entsteht ein warmer Kontakt, eine gegenseitige Aussprache
ohne irgendwelchen Fanatismus der persönlichen Anschauung,
Ich befrage Frau Eysoldt um ihre künstlerischen Pläne.
„Meine Pläne? Ich bin eine Suchende, Wartende. Ich sehe
vor mir eine Zeit, die in ihrem inneren Gehalt dichterischen Aus¬
druck noch nicht gefunden hat. Es ist so viel Neues in den
Menschen, so viel Sehnsucht. All das ist nicht ausgesprochen. Es
werden mir immerzu Dramen zugeschickt, die sehr talentvoll, sehr
kultiviert in der Form sind, aber alle sind irgendwie von bereits
schon vorhandenen Werken abgeleitet. Man versucht
Weise Wedelinds oder Hofmannsthals fortzusetzen und damit ist
ja nicht viel getan. Man glaubt mir immer dasselbe bieten zu
müssen. Es fehlt all diesen Dingen an dem persönlichen Erlebnis,
an einer eigenen Welt. Man kommt immer wieder mit der eroti¬
mit einem bereits festgelegten Typus.
schen Frau,
Frau ist ja nicht nur erotisch,
Aber die
Seelenleben ist vielfältiger, auch ihre Sehnsucht. Es liegt so Vieles
in der Luft — warum nehmen die Nachbildner es nicht wahr?
Das, was ich an Neuem schreiben möchte, das finde ich nicht. Ich
möchte lieber warten, bis es da ist, eine Zeitlang schweigen, wenn
ich nicht befürchten müßte, den bereits gewonnenen Boden und
den Kontakt zu verlieren. Ich halte jetzt Nachschau in den alten,
klassischen Literaturen. Vielleicht finde ich da manches, das ich dem
modernen Empfinden nahebringen kann. Ich denke auch an höhere
ethische und künstlerische Aufgaben des Theaters. Es ist gar nicht
wahr, daß wir kein Publikum für ernste Kunst haben. Reinhardt und
Barnowski haben mit ihren Versuchen so viel Verständnis und Zustim¬
mung in den weitesten Kreisen gefunden. Antike Tragödien wurden mit
Begeisterung hingenommen. Shakespeare wirkte wie etwas neues und
Strindbergs „Vater wurde in einer einzigen Saison hundertmal
in Berlin aufgeführt. Wie viele große, geistige interessierte Kreise
gibt es noch innerhalb der ärmeren Gesellschaftsschichten, die dem
Theater fernbleiben müssen und die man gewinnen könnte. Ich
denke dabei nicht an Volksbühnen mit unzureichenden künstlerischen
tum