VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 39

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Miscellanes
1, Maaria, Mailand, Minneapone,
San Francisco, Stockholm, St. Petersburg
unange¬
Ostdeutsche Rundschau
aus
in
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Sich kennen, heißt sich verstehen. Sehr wichtig
und richtig diese Binsenwahrheit, nicht bloß zwischen uns
und den Bulgaren wie den Türken; wichtiger, leider aber
nicht richtiger zwischen dem Deutschtum im Reiche und bei
uns! Unsere anklagende Behauptung, daß sich Reichs¬
deutschland zu wenig um Deutschösterreich kümmere und
es daher nicht recht würdige und verstehe, hat sich in der
Stunde, da wir auf Gedeih und Verderb von der Feindes¬
welt zusammengeschweißt worden sind, nur als zu wahr
erwiesen. Gerade jene, die nicht einsehen wollten, weshalb
wir uns nicht schon lange als gute Staatsbürger gefügt
und von unserem Volkstum gelassen haben, machen heute
verdutzte Gesichter, wenn sie durch dieses oder jenes Er¬
eignis gemahnt werden, daß die Oesterreicher nicht lauter
Deutsche sind. Die reichsdeutschen Kriegsberichterstatter
entdecken im wahrsten Sinn des Wortes da und
dort in Zis und Trans deutsches Leben und berichten davon
ihren Blättern, und der Leser staunt und beeilt sich,
die Brüder mal kennen zu lernen. Diesem Bedürfnis
kommt man auch schon „mit echt österreichischer Liebens¬
würdigkeit entgegen. Wer „man"? Nun, die Eislers, Bo¬
dansky, Kalmanns, Dörrmanns, Wintersteins, Männer
vom Schlage eines Leo Fall, eines Oskar Straus. Ar¬
ihren Opperettenschlagern weht doch so unverfälscht die
Unwiderstehlichkeit, die Anmut des östlichen — nein, des
österreichischen Wesens. Das muß man gesehen haben,
dann ist man den österreichischen Brüdern schon näher
Liest man dann vollends noch im „Berliner Tageblatt",
die natürlich hervorragende Vortragskünstlerin Miete
Möller gebe in Berlin einen österreichischen Dichter¬
abend mit einer auserlesenen Vortragsordnung, die ein
getreues Bild der österreichischen Literaturwelt biete. Und
vas „bietet dieses holde Wesen außer der eigenen
nageren Dekolletage? Schnitzler Salus, Salten
rote Salzmann und Konsorten werde ihnen vorgesetzt
Seite
.
als „typische“ Wiener. — Auf diese Weise glaubt der
Reichsdeutsche die Deutschen in Oesterreich wohl zu kennen
und lernt nur die deutschsprechenden Morgenländer kennen,
die leider heute am alten Nibelungenstrome hausen.
Kriegsdekorationen für Dichter. Das dieser
1910
Victor Journal
Zwei Albumblätter
von Gerhart Hauptmann und
Artur Schnitzler.
Zum 60. Geburtstag des Schauspielers Oskar Sauer.
Zu Oskar Sauers 60. Geburtstag soll unter dem Titel
„Oskar Sauer. Ein Gedenkbuch 1856 bis 1916“ (bei Oesterfeld
& Ko. in Berlin) ein Sammelwerk erscheinen, das von Siegfried
Jacobsohn herausgegeben und dessen Gesamtertrag einem bestimmten
Fonds der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger zugeführt
wird. In diesem Buche schreibt Gerhart Hauptmann
über Oskar Sauer die folgenden Worte:
Wer über Oskar Sauer nachdenkt, kommt zu dem Schluß:
Der wahrhaftigste Mensch allein hat Eignung zum größten Schau¬
spieler. Danach wäre das Wesen der Schauspielkunst nicht Täu¬
schung, sondern Wahrhaftigkeit — nicht Muskerade, sondern
Demaskerade — nicht Mummenschanz und Versteckenspiel der
Seele, sondern Enthüllung und Offenbarung. So ist es auch.
Von einer ähnlichen Ueberzeugung scheinen die auszugehen,
denen Schauspielkunst eine Art schamloser Preisgabe bedeutet. So
urteilt Bürgermoral; aber, gleichwie die Wissenschaft, untersteht
auch die Kunst einer eigenen, anderen. Sie adelt den Künstler,
der sich, vermöge der hohen Idee universeller Menschlichkeit,
begreift, sein Selbst erhöht und es in ein zweites, höheres Leben
steigert. Das reichste Menschentum verfällt, wenn dies Verfahren
in Verfall gerät.
Es ist wohltätig, reinigend und erhebend, die Gestalt Oskar
Sauers, des großen Darstellers, sich hervorzurufen. Man wird es
oft tun, um den Glauben an das deutsche Theater, seine Kraft
und Sendung aufrecht zu erhalten. Aus seinem Wesen und Wirken
ist eine ganze Dramaturgie abzuleiten, die eines der wertvollsten
Vermächtnisse für die deutsche Schaubühne sein könnte. In Sauer
verkörpert sich ihr wahrhaft schöpferisches Vermögen, ihre Moral
und höchste Würde.
Artur Schnitzlerschreibt: „Wie gern benutze ich den
Anlaß seines sechzigsten Geburtstages, um Oskar Sauer meine
verehrungsvollsten Grüße zu senden. Ich habe diesem außer¬
ordentlichen Künstler als Theaterbesucher im Laufe der Jahre so
viel zu danken gehabt, daß ich es eigentlich als überflüssig, wenn
nicht als unbescheiden empfinden müßte, hier auch noch aus¬
zusprechen, was ich ihm als Theaterschriftsteller schuldig geworden
bin; aber ich kann mich doch nicht enthalten, nach dem Gregers
Werle (der wahrscheinlich uns allen zuerst einfällt), dem Ulrik
Brendel, dem Wehrhahn und mancherlei andern, sehr bald des Mal¬
professors Wegrat (aus dem „Einsamen Weg") zu gedenken als
einer Gestalt, um deren Haupt es in meiner Erinnerung wie ein
Heiligen= oder vielmehr ein Edelschein schwebt, und die durch
Sauers Kunst wohl auch anderen Leuten als dem Dichter unver¬
geßlich geblieben sein mag. Wie kaum einen zweiten Schauspieler
war es ja Oskar Sauer gegeben, den wahrhaft reinen Menschen
darzustellen: — Reinheit in jener Vollendung, wo sie schon wieder
Schuld geworden ist. (Denn nicht nur im Uebermut sich über die
Weit erheben wollen; auch aus Güte sich nicht in sie finden können
ist Schuld vor Gott, Schuld im Geiste der Tragödie — tragische
Schuld.) Wir wissen alle, wie vieles Sauer außerdem noch gekannt,
gemeistert hat; und es ist nur natürlich, daß gerade die humo¬
ristische Kehrseite der Reinheit eines seiner bevorzugten Gebiete
daß seine Schauspielkunst in der Atmosphäre der Naivität, Einfalt
und Beschränkheit gleichfalls wunderbar zu Hause war. Aber wenn
geistige Ueberlegenheit, Kühnheit, ja die Größe selbst aus der
Eigentümlichkeit einer bestimmten schauspielerischen Begabung heraus¬
gespielt werden können, ohne daß im Menschentum des betreffenden
Darstellers auch nur bescheidene Elemente jener Eigenschaften auf¬
findbar sein müssen: um imstande zu sein, auf der Bühne
nicht etwa kleine Herzenstalente, sondern Herzensgenialität glaub¬