VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 49

Miscellanos
Lugano hat keine Saison; der Kursaal ist
geschlossen; in den großen Hotels stehen ganze
Flügel leer: die banten Läden, alle Schätze der
Welt in Regalen, unter Glas, auf gebogenen
Tischen, sind nicht geöffnet. Und dennoch ist
diese zauberische Stadt voll. Deutsche bevölkern
sie, jene Deutschen, die Italien hatten verlassen
müssen. Seit Jahren und Jahrzehnten dort an
sässig, heinisch geworden, vermochten sie nicht,
die Atmosphäre des Südens zu entbehren. Sie
mußten wohl die Grenze überschreiten, aber im
nächsten Ort, der ihnen freistand, fielen sie
nieder, ein Zug füdtrunkener Vögel. Es war
Lugano, schweizerisch, doch italienisch in Ge¬
präge, Sprache und Luft. Gelehrte, Kaufleute,
Zeitungskorrespondenten, Maler, Bildhauer,
Dichter, Rentner: diese alle bilden nun eine
große deutsche Kolonie in Lugano. Au¬
Wohnungen sind vermietet, die Pensionen be¬
setzt, und tausend deutsche Herzen schlagen hier
inbrünstig dem Frieden entgegen. Wird ein
ihnen die verlorene Wahlheimat alsbald zurück¬
geben? Keiner glaubt wohl daran: Italien wird
ihnen nicht mehr werden, was es war. Aber hie¬
trinken sie nun den geliebten Atem. Bitteres
Glück: das Geliebte ist feind!
Auf der Promenade dem Kai, hört man nur
Deutsch. Ein wenig Französisch klingt da¬
zwischen, und ein kleiner Trupp Engländerinnen
hoch, steif übertrieben höflich, mit ihren Raff
zähnen lächelnd, jenseits aller Mode, mit
Skizzenheften und Büchern — marschiert lang
leinig vorbei. Niemand macht große Toilette.
Für wen? Junge Herren, auf die es wirken
könnte, gibt es nicht. Nur weiße Männerköpf¬
drehen sich jugendlich nach einem schönen Gesich
um. Alte Herren — ein ganzes Heer — lust¬
wandeln hier, langweilen sich, machen altmodisch
Hof. Sie haben ihr deutsches Stammlokal, den
Gambrinus, wo sie echtes Münchener und
billiger als in Deutschland
Pilsener
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können und romantisch sein? Wird es jemals
bekommen, und alle Zeitungen der Welt dazu.
noch Romantik geben nach diesem Sturz ins
Sie politisieren mit Maß, denn der Mensch muß
Allzuwirklichen Hungern wir nicht heute schon
das lassen, wenn die Weltgeschichte selbst an¬
nach Romanen, in denen wir wieder sein dürfen,
fängt, Politik zu treiben. Sie läßt sich nicht
wie wir einmal waren, und es vielleicht nie
dreinreden, das Schicksal will seinen natürlichen
wieder sein können?..
Gang und sein logisches Ende haben.
Schoßhündchen klässen sich an. Die Musik
Aber am Sonntag, da taucht plötzlich Jugend
verstummt; man wird sich der Kälte bewußt.
auf. Die Angestellten der Banken, der Fabriken
Alles bricht plötzlich auf: das Café leert sich,
haben ihren freien Tag, und in jäher, kurzer
und man verliert sich in den feuchten, windigen
Die jungen
Wiederkehr lebt die Saison
Arkaden der inneren Stadt.
feurig, haben
Tessiner sind schön, schlank
Diese innere Stadt ist ein Märchen. Ein
Witz und Anstand. Sie flanieren am Kai in
Gassengewirr voll Oeldust, Weindunst, Tabak,
modischen Mänteln, die Zeitung in der Tasche
Käse, Wurst, Bäckereien, geröstete Maronen,
Und nachmittags ist das einzige Café überfüllt
Es nennt sich „Riviera“, und das ist gut so, denn alles gut da durcheinander. In den Arkaden,
die voll Verkaufstischen sind, voller Berge von
in diesen kalten Tagen macht schon dieser Name
Stoffen, Obst, Körben, Porzellan, fängt sich die
warm. Aber nur der Name! Drinnen, in den
italienische Atmosphäre. Vor der Straßen¬
hohen Sälen mit den Glaswänden, herrscht der
bahn drängt sich alles an die Häuse. Ein
Frost. Man soll sich aneinander wärmen, Ein¬
Plätzchen öffnet sich, eingeschneit: ein Hauch
liebenswürdige Enge von Tisch und Stuhl er
Norden, Deutschland, Weihnachten streicht vor¬
möglicht das. Drei Mann machen dazu Konzert.
über — aber da steht die Renaissancefassade
Es ist fragwürdig. Aber das ganze Bild hat
des Municipio, da sind die schmalen italienischen
etwas von großer Welt: ein paar Sprachen,
Balkonfenster, ein klassisches Portal, die
Pelzmäntel mit schimmer dem Futter; Duft von
Lingua Toskana in üblem Dialekt... Man ist
Kaffee, Kuchen, Schokolade, Blumen, Parfürs
nicht daheim. Das Grauen, die Bosheit, die
Frauenlachen: Anstoßen von Billardkugeln;
Kälte der Fremde packt ans Herz. Und jene
eine Autohupe: vor den Riesenfenstern das
schrecklichste Frage der Reise erklingt: Wozu
Panorama des Sees: Monte Bré. Generosa
Was willst du hier? Was hat das alles für
San Salvatore. Es ist wie die Szene aus einem
einen Sinn?...
Roman von Schnitzler. Hier könnte, im Rahmen
Die Nacht kommt. Im Salon der Pension
von Gesellschaft und Luxus, die Tragikomödie
legt die Engländerin Patience, spielt die
zweier Seelen beginnen. Aber wie? Lugano
ist das nicht Schnitzler=Land? Zehn Schritte
Deutsche Klavier. Auf meiner Terrasse liegt
mit dem Garten, in dem
weiter das
der Schnee. Die Nacht ist ganz schwarz. Unten
Georg Therese küßte und dabei die wehe Lust
der See ist ein Abgrund ins Unendliche. Licht¬
der Lüge empfand; der See, auf den sie hinaus¬
punkte stehen drüben. Die Dörfer Italiens...
ruderten, die Menschen aus dem „Weg in
Das Schweigen ist königlich. Es ist das
Freie". Auf jenem Balkon saß Anna und
Schweigen einer Winternacht in Italien. Wo
Sterne? Nachtigallen Blumenduft? Mando¬
wartete...
linen? Warmer Wind Säuselnder Lorbeer? —
Man findet sich zurück in die schnöder¬
Wirklichkeit. Wann wird man wieder reisen Es ist Italien, aber Italien ohne Seele. Ein