VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 55

1.
Miscellaneous
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mit dem christ¬
deal auf sich habe, von dem wir zu Beginn seine
keit öffentlich gesprochen und mit dem er so viel Auf
erregt habe. Der neue Direktor des Burgtheaters macht
mir darauf folgende Ausführungen, von denen ich nach
seinem Willen Gebrauch machen darf, weil ich ihm die
Zusicherung gab, daß ich künstlerische Urteile nicht durch
die parteipolitische Brille sehe und meinen Eindruck un¬
bedingt objektiv wiedergeben würde.
Christlich germanisches Schönheitsbeal im Sinn
des Herrn v. Millenkovich gedeutet ist nichts weiter, als
eine retorisch gesteigerte Ausdruck for
des mitteleuropäischen Schönheitsideals, also desjenigen
ästhetischen Ideals, das unsere engere Kulturgemeinschaft
augenblicklich in der Seele trägt. Christlich soll kein
Gegensatz zur Antike und germanisch kein Gegensatz zu
romanisch sein. Die Antike ist durch die Renaissance ein
Teil unserer Bildung und unseres Geisteslebens gewor¬
den. Und die großen Dichter anglosächsischer und romani
scher Herkunft, wie besonders Shakespeare und Calderon
sind mit den Ideen, die unsere künstlerische Anschauungs¬
weise erfüllen, auf das innigste verbunden. Darum werden
durch ein christlich-germanisches Schönheitsideal die
großen Schöpfungen des Altertums, des lateinischen
Mittelalters und der romanischen Neuzeit nicht aus¬
geschlossen. Wichtiger aber macht sich die Durchführung
eines solchen Schönheitsideals in der Art geltend, wie
Kunstwerke auf die moderne Bühne zu bringen sind. Die
Inszenierung entspricht heute zum großen Teile nicht den
Forderungen, welche ein mitteleuropäisch gebildetes Volk
zu stellen hat. Diese Inszenierung zeigt nämlich
weder christliche noch germanische, weder antike noch roma¬
nische, sondern hauptsächlich babylonische und ägyptische,
zum großen Teil jedenfalls asiatische Vorbilder. Die Stil¬
verirrungen moderner Dekorationsmer und Kostüm¬
zeichner weisen bestenfalls nach dem Osten, und die deko¬
rativen Arbeiten, welche im Burgtheater zu einer
durch die Wiener Werkstätten angeregten Auf¬
führung der „Nibelungen" beigetragen haben, wir¬
ken geradezu beschämend. An dieser Stelle muß
Reform besonders stark einsetzen. Man darf natürlich nicht
verlangen, daß gleich im Anfang große Ereignisse erzielt
werden, aber nach und nach wird man dahin gelangen,
daß jeder Abend sich zu einem Erlebnis gestaltet. Nicht
als ob damit an jedem Abend die höchsten Werke der
dramatischen Literatur vorgeführt werden sollen — das
Theater muß schließlich neben dem tragenden Kunstwerke
auch für das tägliche Brot, für das Publikum und die
Theaterkasse sorgen. Aber auch die Vorführung eines
harmlosen Lustspiels kann durch Aufführung und
Inszenierung derart herausgebracht werden, daß sie in
ihrer Art etwas Eigenartiges und Einzigartiges bietet.
Darauf kommt es vor allem an, das Interesse für das
Märchenhafte und Dämonische der Schaubühne zu heben
und zu beleben. Das christlich-germanische Schönheits¬
ideal wird kein Werk ausschließen, weil es von einem
Manne stammt, der nicht christlich oder nicht germanisch
von Geburt ist. Dichter wie Schnitzler, die der deutsche
Theaterkulturverband nicht eben freundlich betrachtet,
sollen ebenso willkommen sein, wie Wedekind oder andere,
falls sie brauchbare Stücke liefern. Das Schönheitsideal
ist leider nur ein Ideal und kann nur an Feiertagen
verwirklicht werden. Die große Masse der Dichter und
Stücke schreiber hat Zeit genug, sich an den Wochentagen
zu betätigen.
Also sprach der neue Herr des Burgtheaters. Wenn
man's hört, möcht's leidlich scheinen. Wegen seiner grund¬
sätzlichen Wichtigkeit gebe ich diesen ersten Teil meiner
Unterhaltung mit dem sympathischen Mann, der für
einige Zeit wenigstens das Burgtheater leiten wird, hier
wieder. Die Kritik der Ausführungen und die weitere
Unterhaltung teile ich erst mit, wenn ich das herrliche
Budapest wieder verlassen haben und im preußischen
Berlin sitzen werde. Dort erst werde ich zeigen, daß auch
die Tätigkeit des Herrn v. Millenkovich, wie jede ernst
gemeinte, wahrhaft künstlerische Arbeit in Wien an dem
zur Landplage gewordenen Personenkultus scheitern fluß,