VII, Verschiedenes 11, 1917–1920, Seite 10

1. Miscellaneous box 41/6
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Besichtspunkt der Heimatstadt seines Ideals über. Sanfte Höhen, buntgesprenkelie Wiesen,
geheimnisvoll geschlossene Wälder erzählten von
hen, erschien es ihm voller Reiz, aber
der Lieblichkeit der Landschaft. Aber die Sprache
Da er es resultatlos durchforscht hatte, fand
der Natur d#ing nicht zu ihm, der soeben ein
leer, tot, ablehnend. Wollte er ebedem
Konversationsprogramm entwarf, das sehr viele
Essai über das noch vorhandene „Süße
l“ schreiben, so beschloß er nun, einen über
„Schau'n S', wie herzig!“ aufwies. Schließlich
war die betreffende Station erreicht, was ihm
leider ausgestorbene“ zu verfassen.
dadurch zum Bewustsein kam, daß die Erhoffte
nn er war ein Mensch, der romantischen
mit praktischer Verwertung zu verbinden
sich erhob, um auszusteigen. Er folgte ihr in ein
ländliches Wirtshaus, das einen guten Nahmen
und die jeweiligen vernichteten und
ernichteten Ziele seines Lebens in Drucker¬
für sie abgab. Sie schien hier zu wohnen, gewiß
ze umzuwerten verstand. Schon hatte er
im Kreise von Vaterl und Schwesterl, die sich
eine billige Sommererholung gönnten. Die
rgenommen, mit der negariven Ausbeute
Wiener Aufenthaltes nach Berlin zurück¬
Mutter hatte er ein= für allemal getötet, das
paßte besser zu „ihr“, gab ihr eine sentimentalen
ren, als er in der Mariahilferstraße ein
Hintergrund.
3 Mädchen sah, das äußerlich so vollkommen
Anforderungen entsprach, daß er beschloß,
Das abendliche Wirtszimmer sah ein wenig
letzten Versuch zu wagen.
trüb aus im Schein der einzigen Gasflamme,
urch die Kühle seiner norddeutschen Sprech¬
und es war von dumpfem Gasthausbunst erfüllt.
hatte er sich bisher des öftern den Weg zum
Die Ersehnte erschien wieder, diesmal ohne Hut,
in, ja zum Verständnis der Wienerin ver¬
und sah noch lieber und mädchenhafter aus als
denn wenn nicht schon der harte Klang
vordem. Aber sie blieb allein. kein Vaterl und
Idioms sie abschreckte, so doch ganz gewiß
kein Schwesterl, nicht einmal eine „Tant“. „Es
orrekte Satzbau, die Tadellosigkeit seiner
geht auch so,“ dachte er und versuchte ihren Tisch
den.
zu erreichen, aber schon hatte sie sich wieder er¬
bald er begann: „Mein gnädiges Fräulein
hoben.
ten Sie .. . .“ fingen sie an zu lachen.
„Bringen S' mir 's Essen aufs Zimmer, ich
hatte er versucht, sich den Wiener Dialekt
bin zu müd'!“ rief sie dem Wirt zu und ging da¬
ignen, ohne daß es ihm bisher gelungen
von.
Aber als strebsamer und auf das Ziel be¬
Es wäre nun ein leichtes gewesen zu er¬
r Mensch setzte er seine Studien fort, indem
fahren, wer sie sei, aber darauf verfiel er nicht.
bungen mit dem Wort „Knäulerl“ machte,
Im Gegenteil, er umaing die Leichtigkeit und
hm für seine Zwecke ganz besonders em¬
wählte das Schwerere. Er aß einen zähen Palat¬
en war. So schritt er auch jetzt Knäulerl
schinken mit zweifelhafter Füllung, trank einen
hinter dem hübschen Mädchen her, dessen
saueren Wein und träumte von künftiger. besse¬
sanftes Gesicht so recht den Wiener Ur¬
rer Zeit. Dann ließ er sich ein Zimmer an¬
aufwies. So vertieft war er in ihren An¬
weisen. Er verbrachte eine ungewöhnlich schlechte
und seine Studien, daß er erst merkte, wo¬
Nacht, im beständigen Kampf mit einer verbeul¬
n der Weg führte, als er eingekeilt zwischen
ten Seegrasmatratze und einigen wandernden
Rucksäcken und zwei Handtaschen an einem
Hautreizen, die es ihm nicht gelang. zur Strecke
ter der Westbahn stand.
zu bringen. Die Hoffnung erhielt ihn am Leben,
und er sollte für seine Tapferkeit zunächst durch
ollends erwachte er beim Klang einer sanf¬
sich selbst belohnt werden. Als er nämlich das!
Stimme, die eine Fahrkarte nach einer
Fenster aufschlug und die sanften, sonnbeleuchte¬
on des Wienerwaldes verlangte. Schnell
#ten Höhen des Wienerwaldes vor sich liegen sah
er die gleiche Karte. und es gelang ihm
und zugleich des süßen Mädels gedachte, dessen
das gleiche Abteil mit der Ersehnten zu er¬
Existenz festzuhalten er im Begriff war. über¬
en, leider durch die drei Rucksäcke und zwei
kam ihn die Lyrik. Er zog das Notizbuch und
dtaschen nebst Zubehör von ihr getrennt. —
schrieb: „Du schöner Rahmen um ein schöneres
nach dem andern jener reizvollen Orte,
Bild .. .“ Da trat eine Stockung ein. Er leckte am
so lebhaft koloriert sind durch allzufesche
dl und allzu abgenützte Bnam, glitt vor= Bleistift. Dann trat er vor den Spiegel und zog
M
S
sich einen Scheitel, und als ob diese Tat der Kul¬
tur seine Insoiration befördert hätte, notierte er
weiter:
„So sanft gewellt der eine wie der andere!
Ihr haltet mich, daß ich nicht weiter wandere.
Ihr kettet mich an liebliches Gefild.“
Dann aber strich er das liebliche Gesild wieder
durch —, denn er dachte an seinen Stammtisch im
Café des Westens — und setzte dafür: „Die Seele
fesselt ihr, die frei und wild.“ Eigentlich war
auch das noch zu anmutig und viel zu gereimt,
aber er konnte nicht anders: wie der Sonntags¬
reiter seinem Roß, so mußte er sich seiner Wiener¬
wald-Inspiration überlassen, es dichtete einfach
aus ihm, und er tröstete sich echt wienerisch:
„Ja da kann man nix machen.“
Aber 'vorläufig hatte er sich erschöpft, und so
beendete er seine Toilette und ging froher Er¬
wartung voll in die Wirtsstube. „Sie“ war nicht
dort. Er frühstückte. Sie kam nicht. Er frühstückte
nochmals. Sie kam immer noch nicht.
„Natürlich ist sie längst draußen,“ tröstete er
sich.
Er durchstreifte den Wald, die Wiesen, ging
rund um den Ort. Als er eben ermüdet heim,
kam, saß das süße Mädel am Wirtstisch und
klopfte eben ein drittes Ei auf. Er warf einen
Blick in den Spiegel, der sein Gesicht grün und
achteckig zurückgab, und zupfte das Sacktuch höher
aus der Tasche. Dann räusperte er sich, während
sie jetzt die Zeitung las. Eine Zeitung ist immer
eine gute Brücke:
„Bitt schön, erlauben's, ist die Zeitung frei?“
Beinahe hätte er noch „Knäulerl“ hinzuge¬
setzt, aber er verschluckte es im letzten Augen¬
blick.
„Ich les eh ur, er g'storben is,“ antwortete
sie freundlich mit einer schönen Ursprünglichkeit,
die ihn berauschte.
Würde dies je eine Berlinerin zugegeben
haben?! Und das Schönste: sie hatte nicht gelacht,
also war sein Wienerisch einwandfrei, Ja, sie
er
zeigte sich nicht einmal überrascht, als
Zeitung weiter nicht beachtete, sondern sich ein¬
fach an ihrem Tische niederließ. Das war sie, es
war „das“ süße Mädel, wie Wien es geboren,
Artur Schnitzler es festgchalten und viele andere
es nachempfunden hatten. Er bestellte sich auch
drei Eier und fühlte sich ganz aufgehen im
Milieu.
(Schluß folgt.) 7