VII, Verschiedenes 11, 1917–1920, Seite 55

1 Miscellancons
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Worte der Erinnerung an
meinen Vater.
Von
Klothilde Benedikt.
Bevor ich sin Sinne und Geiste meines Vaters, der in der
Arbeit Trost für' jedes Leid fand wicher zu meiner Tätigkeit
zurückkehre, ist es mir ein Herzensbedürfnis, die ersten Zeilen ihm
zu weihen. „Ich bi ein=Mensch gewesen, und das heißt ein
Kämpfer sein.] Wieses schöne Goethe=Wort, das ich ihm auf den
Grabstein setzs, hat sich an ihm im Leben und Sterben erprobt.
Denn selbst um die seit langen Jahren so heiß von ihm ersehnte
Erlösung aus dem Leben mußte er schwer kämpfen, sowohl durch
seine eiserne Konstitution, als durch die grausamen Behelfe
moderner Wissenschaft, die Hofrat Ortner, drei liebevolle
Krankenschwestern und ein ganzer Stab von jungen Aerzten der Klinik
Tag und Nacht in aufopferndster Weise anwendeten. So lag er
zwei Nächte und Tage hilflos wie ein Kind in meinen Armen. Da
zog dies ganze reich ausgefüllte Leben, so unglücklich, aber auch
so glücklich wie kaum ein zweites, an seinem Auge vorüber, wie
er es so anziehend für Fremde in seinen Erinnerungen geschildert
hat.*) Ich kannte es aber in den geheimsten Falten, selbst
Fehlern und Verirrungen, denn in der ganz seltenen Freundschaft
und Kameradschaft, die Jahrzehnte zwischen uns geherrscht hatte,
kannte er kaum ein Geheichnis vor mir. In den letzten Stunden
fallen letzte Masken, wie sein einstiger Assistent Anur Schnitzler
gesagt hat. Und so wird mir klar, was die letzten Jahre so
hemmend zwischen uns trat, fremde, eigennützige Elemente, und
daß ich ihm mit bestem Willen nicht in die Altersirrgänge seiner
Pendellehre folgen konute, so auregend genial fördernd, im Kriege
reichen Segen Sringend mein Vater selbst auf eigenen Irrwegen!?
für Oberst Reichl und andere Ruthenkünstler gewirkt hat.
Ich verfolge dies Leben von der Geburt, dem in jedem Sinne
düsteren Elternhause in der engen Judengasse zu Eisenstadt, das
seit Jahrhunderten im Besitz der Familie war, in dem ein großer
Ahne sich die literarische Unsterblichkeit und eine Art Heiligenschein
erworben hat; ich sehe die hundertjährige Großmutter französischen
Ursprunges, deren Andenken mein Vater mit rührenden Wortens
in seinem Testament gesegnet hat; sehe die geistig hervorragendel
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1. Mai 1920
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Mutter, die ihm alles vererbt hat, die lange Lebensdauer, den Fleiß,
den Bildungstrieb, den Sarkasmus, die Sprachgewandtheit in Wort
und Scheift, die maßlose Heftigkeit, die schonungslose Aufrichtigkeit,
die Charakterstärke, die Rücksichtslosigkeit, selbst gegen Nächste.
Ich sehe ihn in Wien in der Gymnasiasten= und Revolutions¬
eit, a
den besten
ständigen Klassenprimus in
Kreisen verkehrend, wie er sich langsam vom Rituale
seines Glaubens und dem ihm zugedachten Rabbinerberuf loslöst,
in den Oberklassen unter einer romantischen aussichtslosen Liebe
und der Unmöglichkeit, als Jude den ihm zusagenden Physiker¬
beruf zu ergreifen, gleich leidend. Ich sehe dann den von den
großen Lehrern der damaligen Wiener Schule verwöhnten und
verzogenen Studenten, im Rausche der ersten literarischen Erfolge,
aber in tiefster Melancholie, weil der ärztliche Beruf ihn niemals
befriedigte, den er übrigens noch als Fünfziger mit der ihm an¬
getragenen Chefredakteurstelle eines großen Wiener Blattes ver¬
tauschen wollte, wovon ihn nur meine Mutter abhielt, der er
als seinem Schutzgeist seine Erinnerungen geweiht hat. Dann die
glücklichsten drei Jahre seines Lebens als Militärarzt in Italien,
wo ihn Sprache, Land, Kunst und schöne Frauen gleich be¬
geisterten. Dann nach der Rückkehr die rasche, aber ebenso
rasch zum Stillstand gebrachte Universitätslaufbahn, die entsetz¬
lichen Kämpfe, die ihn bis zum Rand des Selbstmordes trieben,
bis er die Frau seiner Wahl heimführen konnte. (Es war dies
nämlich die erste, damals gesetzlich in Oesterreich noch nicht ge¬
simen Ehe eines Jnden mit einer Kathoniti.) Dann die Kämpfe
bei Schaffung der Elektrotherapie, der Kriminalanthropologie, bei
der Agitation zur Abschassung der Todesstrafe, für das Frauen¬