VII, Verschiedenes 11, 1917–1920, Seite 56

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zog dies ganze reich ausgefüllte Leben, so unglücklich, aber auch
so glücklich wie kaum ein zweites, an seinem Auge vorüber, wie
er es so anziehend für Fremde in seinen Erinnerungen geschildert
hat.*) Ich kannte es aber in den geheimsten Falten, selbst
Fehlern und Verirrungen, denn in der ganz seltenen Freundschaft
und Kameradschaft, die Jahrzehnte zwischen uns geherrscht hatte,
kannte er kaum ein Geheimnis vor mir. In den letzten Stunden
fallen letzte Masken, wie sein einstiger Assistent Artur Schnitzler
gesagt hat. Und so wird mir klar, was die letzten Jahre so
hemmend zwischen uns trat, sremde, eigennützige Elemente, und
daß ich ihm mit bestem Willen nicht in die Altersirrgänge seiner
Pendellehre folgen konnte, so auregend genial=fördernd, im Kriege
reichen Segen bringend mein Vater selbst auf eigenen Irrwegen
für Oberst Reichl und andere Ruthenkünstler gewirkt hat.
Ich verfolge dies Leben von der Geburt, dem in jedem Sinne
düsteren Elternhause in der engen Judengasse zu Eisenstadt, das
seit Jahrhunderten im Besitz der Familie war, in dem ein großer
Ahne sich die literarische Unsterblichkeit und eie Art Heiligenschein
erworben hat; ich sehe die hundertjährige Großmutter französischen
Ursprunges, deren Andenken mein Vater mit rührenden Worten
in seinem Testament gesegnet hat; sehe die geistig hervorragendes
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1. Mai 1920
Nr. 9514
Mutter, die ihm alles vererbt hat, die lange Lebensdauer, den Fleiß,
den Bildungstrieb, den Sarkasmus, die Sprachgewandtheit in Wort
und Schrift, die maßlose Heftigkeit, die schonungslose Aufrichtigkeit,
die Charakterstärke, die Rücksichtslosigkeit, seibst gegen Nächste.
Ich sehe ihn in Wien in der Gymnasiasten= und Revolutions¬
den besten
als ständigen Klassenprimus

Kreisen verkehrend, wie er sich langsam vom Rituale
seines Glaubens und dem ihm zugedachten Rabbinerberuf loslöst,
in den Oberklassen unter einer romantischen aussichtslosen Liebe
und der Unmöglichkeit, als Jude den ihm zusagenden Physiker¬
beruf zu ergreifen, gleich leidend. Ich sehe dann den von den
großen Lehrern der damaligen Wiener Schule verwöhnten und
verzogenen Studenten, im Rausche der ersten literarischen Erfolge,
aber in tiefster Melancholie, weil der ärztliche Beruf ihn niemals
befriedigte, den er übrigens noch als Fünfziger mit der ihm an¬
getragenen Chefredakteurstelle eines großen Wiener Blattes ver¬
tauschen wollte, wovon ihn nur meine Mutter abhielt, der er
als seinem Schutzgeist seine Erinnerungen geweiht hat. Dann die
glücklichsten drei Jahre seines Lebens als Militärarzt in Italien,
wo ihn Sprache, Land, Kunst und schöne Frauen gleich be¬
geisterten. Dann nach der Rückkehr die rasche, aber ebenso
rasch zum Stillstand gebrachte Universitätslaufbahn, die entsetz¬
lichen Kämpfe, die ihn bis zum Rand des Selbstmordes trieben,
bis er die Frau seiner Wahl heimführen konnte. (Es war dies
nämlich die erste, damals gesetzlich in Oesterreich noch nicht ge¬
stattete Ehe eines Juden mit einer Katholikin.) Dann die Kämpfe
bei Schaffung der Elektrotherapie, der Kriminalanthropologie, bei
der Agitation zur Abschafsung der Todesstrafe, für das Frauen¬
studium. Endlich zwei seiner schönsten Taten, der Kampf für die
Bergführer gegen ausbeutende Hochtouristen, und was in den
Nekrologen leider nicht erwähnt wurde, sein jahrzehnte¬
langer Kampf gemeinsam mit Dr. Gustav Fried in den Unfalls¬
prozessen zugunsten der Eisenbahner und sonstiger beschädigter Arbeiter
gegen die Gesellschaften. Reicher Lohn und Ehrenstellen hätten
auf der anderen Seite gewinkt, aber „Sie sind der Einzige in
Oesterreich, der rücksichtslos für Wahrheit und Recht eintritt“ hat
meinem Vater Edmund v. Neusser am Abend jenes Tages ge¬
schrieben, als er mit seiner Hilfe die Professur erhielt. Den
Ueberschwang des dankerfüllten Polen hat mein Vater natürlich
sofort zurückgewiesen; aber angenehmer hätte sich für ihn und die
Seinigen, die übrigens nicht sein Talent, aber diesen
Zug des Rechtsgesühls von ihm geerbt haben, das
Leben gestaltet, wenn er weniger für andere gestritten
hätte. Und daß mein Vater seine internationale vor¬
nehme Praxis nicht als Geschäftsmann auszunutzen verstand,
darauf bin ich in vollem Glücksgefühl eigener Arbeit stolzer, als
wenn er mir hätte Millionen vererben können. Während ich
unserer heirlichen gemeinsamen Gebirgs=, Kunst= und Kongre߬
ie
reisen durch ganz Europa gedachte, wo ihm in der überreichen
Anerkennung des Auslandes Ersatz für die Mißachtung in der
Heimat wurde, merke ich plötzlich eine Veränderung in den Zügen
#rmeinen Maier Muit einem in glücklichen Lächeln, wie ich es im
Leben nie an ihm gesehen, ist er ruhig hinübergegangen. Er lebte
nur für seine Arbeit und seine Arbeit wird fortleben, die einzige