VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 12

Miscellaneous
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1922

eitung.
13. Juni
Haager Portraigalerie.
Von
Friedrich Markus Huebner.
Wer im Haag lebt, hat es bequem: aus allen Ländern kommen
die großen Leute, um hier ihre Ideen zu verkünden, um hier ihr
leibliches Gehabe, ihr Gesicht, ihr Mienenspiel vor Zuhörer und
Zuschauer zu bringen. Voriges Jahr war es Tagore, der hier
seine europäische Rundreise begann, dieses Jahr wird es der noch
heiligere indische Aszet Sing sein, der hier erstmals europäischen
Boden betritt. Aus den Vereinigten Staaten kam im letzten
Monat eine Mormonen=Abordnung, in einem kleinen regetarischen
Hotel hatten sich 1921. Sendlinge der persischen Bohaisten nieder¬
gelassen, R. Steiner mit seinen Jüngern veranstaltete gleich eine
ganze Vorlesungswoche, und alle wollen dasselbe: werben.
Um aber die Wahrheit zu sagen, so ist zwar das Interesse für
ausländische Geistesgrößen im Haag bedeutend, doch nicht eigent¬
lich überwältigend. Wenn allein im letztvergangenen Monat
Chesterton, Schnitzler, van Eeden in den Sälen von Diligentia
oder „Pulcher Studio sprachen, so finden die Haager solche Besuche
reizend und gehen in die Veranstaltungen, wie sie in ihre öffent¬
lichen Bildersammlungen gehen: als vollkommene geistige Genießer,
die im übrigen sich durch den fremden Einfluß nicht aus dem
Konzept bringen lassen. Nur wie Porträtbilder, ein wenig fern,
ein wenig gleichgültig, so ziehen hier am Publikum die Künstler¬
und Schriftstellerfiguren vorüber. Während jene vielleicht denken,
eine wirkliche, unvergängliche geistige Aussaat vorzunehmen,
bedeutet ihr Kommen für dieses überaus belesene und kultivierte
Publikum der holländischen Residenz nur mehr einen Zeitvertreib,
eine angenehme und mühelose Gelegenheit, in fremdem mensch¬
lichem Gefühl zu schwelgen, ohne sich selber menschlich darangeben
zu müssen.
G. K. Chesterton.
Ueberfüllter Saal. Viele holländische Priester. Arlaches der
amerikanischen und englischen Gesandtschaften. Die Flügeltüren
des Seitenzimmers gehen auf, und ein Zug von Damen aller
Altersstufen, die mit dem Dichter über den Aermelkanal gekommen
sind, bewegt sich zu den reservierten Plätzen vor dem Rednerpult.
Chesterton folgt als letzter im Zuge. Nicht gänzlich Herr über
seinen linken Arm, der seit einem Schlaganfall sich aus dem Be¬
fehlsbereich des Gehirns gelockert hat, klammert seine rechte Hand
fest die Linke; beides rosige, dicke, kindliche Hände von derselben
schwellenden, vielleicht befeuchteten Gewölbtheit wie die Lippen.
Die Lippen stehen in einem Gesichte, das sehr freundlich, sehr
arglos blickt und sonderbar die ganze Schädelform Lügen straft,
dieses mächtige, löwenförmige Haupt mit der Mähne kräftig ge¬
wellter Haare über einer durchfurchten, hohen Stirn. Gesicht und
Haupt, die Kinderlippen und der riesenhafte Wuchs von Schultern,
Rumpf, Armen, die näselnde, dünne, überhelle Engländerstimme
aus diesem Löwenhaupte heraus, dies alles wirkt irgendwie wider¬
sprüchlich, paradoxal, und so findet man eben an der Erscheinung
dies desto treffender und wesensgemäßer, daß sie fortwährend von
närrischen Wortspielen, Paradoxen und kleinen geistreichen Medi¬
sancen sprudelt. Dieses Sprudeln geschieht wörtlich, nämlich als
ein Prusten, das sich schon lange vorher, da die Pointe noch erst
im Anzuge ist, ankündigt, kaum noch bezähmbar wird, bis schlie߬
lich die Wangen, die Schulter, der Brustkasten des kindlichen
Riesen wankt und hüpft vor harmloser Freude, daß ihm der
Geist erlaubt, sich so munter und knabenhaft zu tummeln. Er
wird zum Beispiel gefragt: „Wenn beurteilen Sie höher: Dickens
oder Mark" (gemeint ist Mark Twain). Die Frage ist kaum for¬
muliert, als in dem Kindergesicht ein mächtiges, unhörbares
Lachen einsetzt, fürs Publikum desto überraschender, weil es nicht
ahnt, was an der Fragestellung irgendwie komisch sein könnte,
bis dann prustend die Antwort herauskommt, der sofort ein huldi¬