VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 21

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1. Miscellaneous
Seite 15
27. Januar 1924
Neues Wiener Journal
lichen Empfangs=festatistischen Ergüsse über Wert der Unwert der Frischeit liesen Dichtkunst ergeben, hat die halbgelähmte Minaso entdeckt und aus
ihrer Einsamkeit herausgehoben. Ganz ihr Gegenpol und doch ihr
ren, sieht man schließlich auf nichts anderes hinaus als weich-weibische Senti
nächst verwandt bietet sich ihr Bruder Tonoo dar, dem sich alles
Großindustriellen mentalität.
Und nun trat dieser ewig gleichen, ewig verdämmernden zur Gedanklichkeit steigert und diese doch wieder in endlosen
und Geist, der
philosophischer asiatischen Heimatkunst plötzlich die Literatur, Musik und Malerei Wünschen und Klagen ausläuft. Natürlich gibt er das nicht zu
weltberühmte Europas gegenüber. Während die Chinesen, die zwar anfangs und man könnte glauben, Sturm und Drang sei das Kennzeichen
auch energische Versuche machten, sich an die europäischen Kunst neuer und damit der neuen japanischen Dichtungsbehauptung
seine Geliebte
formen und Denkgewohnheiten anzupassen, allmählich doch wieder Aber worin unterscheidet sich das Gedicht:
gen. Und nur
Bergseeangler.
den untersten erstarrten, fiel die europäische Geistesblüte in Japan auf frucht
nerblume, deren baren Boden. „Wie ein glühender Meteorstein, gefallen aus
Im kleinen Kahn
Auf dem tiefgrünen Wasser
chen ihrer Klasse blauem Himmel mitten in den blumenverträumten Garten", so
Sitzt der Alte und angelt,
ut, kennt, ersehnt, schildert Leopold Winkler, der seit langen Jahren in Japan
Er starrt, wie gebannt,
selber Gelegenheit hatte, die Verhältnisse zu studieren, den Ein¬
Geist schüttelt
Auf den Kiel der Angelschnur,
Laune druck der europäischen Kunst auf die Japaner. Regsam, wie die
Er weiß,
hselnder
Daß es keinen Fisch gibt im dunklen See,
und verbietet. Rasse ja stets war, vielleicht übereistig, suchten sich nun die
Doch er sitzt und angelt
Cavallini sich von japanischen Künstler der ihnen dargebotenen europäischen Formen und
Tagaus, tagen, in stillem Schweigen.
hard zum Seelsorger Probleme zu bemächtigen. Eine Unzahl von Uebersetzungen europäische
trotz all seiner bezaubernden Schönheit von denen der alten Chinesen
ganz junger, welt¬ Werke entstand. Sie wurde bald so groß, daß die Buchladen in größere
tausend Jahre vor Christi Geburt
fürchtig von seiner Zahl Bücher ausländischer als asiatischer Autoren enthielten
Und da die Bücher der Fremden mit Eifer gelesen, ja immer
Der Grundton ist derselbe geblieben.
n selbst de Rochard
daß Rochard seine wieder begehrt wurden, ergab sich beinahe von selber der Drang
Sentimentalität und Aesthetizismus liegen wieder über der
hohl er seine Nichte, der japanischen Autoren, ähnliches zu schaffen wie die Europäer
Kunst des Landes der aufgehenden Sonne.
selber. So trat die der europäischen slavisch nachgeahmte, aber
für seine Pflicht
Und wir greifen nach solchen Gedichten, gerade deshalb,
vallini nie gesehen, bereits von Japanern selber erfaßte Literatur kampffroh auf den
weil sie uns fehlen.
Plan. Auch ihr war ein großer Erfolg in Japan beschieden.
Seelenanmut des
Daß den Japanern, die zwar alles kennen lernen wollten,
in zart nähert, de
aber doch nicht für alles dasselbe Gefühl und Verständnis auf¬
Alt=Wien im Alten Landgut
zu haben.
mit dem Jüngling bringen konnten, vor allem jener Teil der europäischen Literatur
Von
gefiel, der ihrer eigenen in mancher Beziehung verwandt war, ist
er, daß die Ver¬
A. Hottner=Crefe.
spät. Beide — der leicht erklärlich. Daraus läßt es sich auch erklären, daß Tolstoi
eine sogar in Japan populäre Gestalt wurde. Namentlich das
wahre Liebe ge¬
Das Wien von heute weiß nicht mehr viel von dem erst
späte Werk Tolstois, das sich allmählich ganz in den Geist des
Im zweiten Akt
istabend, betritt die Urchristentums versenkte, kam den Japanern nahe. Tolstois schwär¬ so berühmten „alten Landgut", vom „Steudelschen Gasthaus¬
garten" und vom „Roten Hof“, Ein Gassenname, ein wehmittig¬
dem Armstrong mit merische Askese, verbunden mit der Formel, daß uns Christus ha¬
heiteres Erinnern sehr alter Leute — das ist alles, was außer ein
Himmelreich bereits auf Erden gegeben habe (oder wenigsten
n, wie aus einen
paar schriftlichen Aufzeichnungen geblieben ist von all der alt¬
ehrwürdigen Damen habe geben wollen), vertrug sich auffallend gut mit den religiösen
Rochard zu sich Gedankengängen der Japaner, die, in ihrer Einfachheit ja auch wienerischen Lust und Fröhlichkeit, welche einst eng verbunden war
auf alles Jenseitige verzichtend, die Erfüllung bereits vom Dies mit jenen drei Namen. Das „alte Landgut war die „noblichste
Dame
strong eine
entfernt er die seits erhofften oder doch wenigstens verlangten. Aber auch jene jener Stätten verklungener Freuden. Und wär's nicht gar so
Dichtungen Tolstois, welche als Anklagewerke gegen Europas einsam gelegen gewesen, eingebettet in seinen weiten, alten Garten,
erscheint Rochard¬
so hätte es wohl noch weit mehr „florieret. Aber die
Westkulturen entstanden, fanden in Japan lebhafte Verbreitung
Cavallini, diesen
Gegend, wo sich heute der Industriebezirk, Favoriten
sofortige Abreise Sie bereiteten den Weg für Gerhart Hauptmann, dessen sozial
gebrochen durch den Dramen gleichzeitig mit den Schöpfungen Ibsens an allen Theatern ausdehnt, wo ungezählte Rauchfänge ragen und von früh bis
abends ein gewaltiges Lied der Menschenarbeit klingt und braust,
Japans zur Aufführung gelangten.
herein. Da er die
war um das Jahr 1850 noch unendlich öde. Weithin dehnten sich
Und das eine bleibt bemerkenswert: als Japan in künst¬
er Rochard ihn
die Felder und Wiesen. Von der Spinnerin am Krenz hatte man
en. Ein Liebes=Duo lerischer Beziehung seine Ansichten änderte, waren es hauptsächlich
einen herrlichen Rundblick, denn kein hohes Haus, kein Fabriks¬
junge Pastor versuch
germanische Dichter, die den größten Einfluß auf die neu
Aber dem seeligen emporsprießende japanische Literatur ausübten und wahrlos gebäude störte die Fernsicht. Wenn man da an einem schönen,
klaren Abend Auslug hielt, dann sah man wohl auch den starken
Frau, die seiner nachgeahmt wurden. Neben den bereits Erwähnten, den
Lichtschein, der von einer hohen, hölzernen Menschengestalt „beim
Nordländer Ibsen, dem Deutschen Gerhart Hauptmann
Züge gegenüberstehen
alten Landgut ausging. Dort hatte der erfinderische
selten, die sich den begegneten auch die englischen Romane der Tagesmode einem
Kaffeesieder Leander Prasch das seltsame Gerüst auf¬
ihres Lebens ver¬
uns geradezu unglaublichen Interesse. Auch sie dienten unzählige
gestellt und mit zahllosen, bunten Lampen behängt.
übt, vernichtet, der
Male als Vorbilder, stets neu ausgeschrieben, wurden sie ger¬
Dieser Leander Prasch war überhaupt ein Genie der Reklame.
nen gelesen. Wenig Erfolg dagegen war der französischen Literatur
Der bekannte altwienerische Dialektdichter Adam Kaltenbrunner,
Im Zimmer der beschieden. Während die germanischen Litteraturen selbständig von
den Japanern aufgegriffen wurden, war es bei den Franzosen in Großonkel von mir, dürfte ihn noch gut gekannt haben, denn
ch ihrer Abschieds¬
er hat oft von jenem erfindungsreichen Wirt erzählt. Und dann
ue, während der die
nicht der Fall. Erst nach dem Weltkrieg, seit Paul Claudel, der
berühmte französische Dichter, als Gesandter der gallischen Republik und wann im Sommer machten auch die feinen „Bürger- und
ment ihre geliebte
Beamtenleut einmal einen Ausflug, eine „Landpartie nach
heitere Note in das
am Hofe der kaiserlichen Majestät in Japan weilte, ändern sich
dem alten Landgut. Einst war das Gebäude eine ausgedehnte
Und während si¬
die Verhältnisse. Frankreich, besorgt, als ideeller Einflußfaktor in
Ziegelei und die Gegend hieß „in den oberen Muhren“.
Gott die Kraft der
Japan gänzlich auszuscheiden, griff in letzter Stunde zu einen
kühnen Plan. Die Franzosen gründeten selber unter der zielsicheren Einmal machte auch Leander Prasch die weite Reise „da hinaus
Von Fieber geschüttel
herumgeirrt. Er hat Leitung Paul Claudels einen Verlag in Japan, ausschließlich zu und besah sich das zum Verkauf ausgebotene Haus.
Es war ein weitausgedehntes, altes Gebäude. Viele
sen Aufgabe es ist,
dem Zweck, französische Autoren dem japanischen Publikum, in
Räume. Große Säle. Aber alles war einsam ringsum. Im großen
sich an konnte er die
guten Uebersetzungen zu vermitteln.
Garten rauschten die mächtigen Linden und Kastanien ihr traum¬
sich doch durch ihr
Ob dieses Bestreben von Erfolg begleitet sein wird, steh
haftes Lied; ganze Scharen von Vögeln jubelten im Geist über
um ihr sein Leben
wildwucherndem Rosengebüsch und ragenden Lilien taumelten
dahin. Bisher blieben als die letzten großen europäischen Vorbilde
Und ein neues
Uhrenschlag klang herein bis in
Johan, doch wieder Vertreter der germanischen Literaturen