VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 26

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Miscellaneous

Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Telefon: Norden 3051
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Ausschnitt aus: Hannoverscher Anzeiger
22. Nov. 1924
Das deutsche Drama der Gegenwart seien.
vierten Vortrag schloß Julius Bab an Hugo von
Hofmannsthal an, den er als einen Fortsetzer der
alten deutschen Romantik bezeichnete, die von Wien
aus einsetzt. Kleinen Naturen sei diese Neuroman¬
tik gefährlich geworden. Vollmöller und Max Rein¬
hardt arten in rein sinnliche Ausstattungsstücke aus
Ernst Hardt zeigt eine markierte Melancholie und
bringt Gestalten der Gudrunsage auf die Bühne, die
mit ganz modernen Gefühlen keinen Hörer ergreifen,
deren Seelenstimmung nur Pose ist. Auch Schnitzlers
Technik wird nachgeahmt, und so hat sich die ora¬
matische Kunst in 20 Jahren gewissermaßen im
Kreise gedreht. Der ganze naturalistische Fortschritt
ware verloren gewesen, wenn die Entwicklung ein¬
zelner Richtungen in der Poesie sich ablöste. Es sei
aber in Wirklichkeit so, daß verschiedene Richtungen
immer nebeneinander hergehen und sich untereinan¬
der verschieben und einzelne wieder in den Vorder¬
grund traten. Richard Dehmel leistet Bedeutendes
als Lyriker, versagt aber im Drama. Paul Ernst
schilderte der Vortragende als verbissenen Theore¬
tiker, radikal in jeder Hinsicht, aber tiefer als Arno
Holz, grausig konsequent, aber nach wenigen Jahren
radikal in entgegengesetzter Richtung wirkend, in¬
dem er Dramen in altgriechischem Sinne versucht.
Aus dem Sozialisten ist ein Aristokrat geworden.
In seinen Dramen Canossa und Brunhild geht der
Naturalismus schon in Expressionismus über. An
Paul Ernst schließt sich die neu=klassische Schule an:
Walter Harden als Komödiendichter und der Nie¬
derdeutsche Hans Frank. Sie erinnern an Hebbel,
der am Jahrhundertende wieder lebendig wird.
Hans Brandt, und besonders Frank Wedekind, brin¬
gen den Menschen wieder als Kraft auf die Bühne.
Wedekind aber den Menschen als physische Kraft, an
die er glaubt. Bei Wedekind ist das einzig Wahre
im Menschen seine Sinnlichkeit und das feruelle
Prinzip ist bei ihm das Ideal, der körperlich befrie¬
digte Mensch. Sein Frühlingserwachen zeigt den
Kampf des ganz jungen Menschen und sein Stre¬
ben, sich sexuell zu befreien. Dieses Thema beim
ganz jungen Menschen sei Wedekind meisterhaft ge¬
lungen, aber beim Erwachsenen hore sein Verständ¬
nis auf. Der „Erdgeist, in dem der kämpfende
Mensch auftritt, werde noch lange leben. Hermann
Ollenberg sei ein begabter Dichter, ebenso Wilhelm
Schmidt=Bonn, der den Kampf zwischen Vater und
Sohn in neuer Art darstelle, und Karl Sternheim.
der die negative Seite von Wedekinds Kunst übe
und in satirischer Weise den Kampf mit der Vergan¬
genheit aufnehme. Ein unbegreifliches Talent sei
Georg Kaiser in seiner wunderbaren Vielseitigkeit.
die ihn in den Stand setzte, in 12 Jahren 20 Stücke
zu schreiben, die gar keine Aehnlichkeit untereinan¬
der haben. Er sei ein ganz kal er Mensch mit rasen¬
dem Spieltrieb und habe für alles Sinn und Auge
und Ohr, sehr talentvoll, aber kein Herz, keine
Fähigkeit des Empfindens für andere.
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Dr. Max Goldschmidt
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de Frage
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other sehe.
Sie haben sich nicht geändert.
Zu den charakteristischen Eigenschaften der
Franzosen gehört, daß sie alle Vorgänge im Aus¬
land einfach negieren. Die französischen Schrift¬
steller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, sie alle
kennen nur ihre französischen Kollegen. So war
es vor dem Kriege und so ist es noch heute.
Ein Pariser Berichterstatter des Neuen
Wiener Journal hat Sacha Guitry besucht, den
Schauspieler, Theaterdirektor und Dramatiker,
den beliebtesten Lustspieldichter von Paris. Es ent¬
wickelte sich folgender Dialog:
„Haben Sie bekannte, Freunde, in den deutsch¬
sprechenden Ländern,
„Persönlich kenne ich niemanden. Ich habe viel
Schönes von Monsieur Reinhardt gehört,
aber persönlich kenne ich ihn nicht. Die Dramen
Monsieur Schnitzlers habe ich mit Freuden
gelesen, weder über kenne ich ihn auch nicht. Von
den Deutschen kenne ich niemanden. Auch Mon¬
sieur Moissi und Monsieur Wegener nicht,
die ich sehr hoch schätze:
„Kennen Sie jemand von den deutschen Schrift
stellern und Regisseuren?"
„Leider niemanden."
„Vielleicht Georg Kaiser?"
„Wer ist das?
„Leopold Jeßner?
„Wer ist das?"
„Von den Russen?"
„Niemanden. Aber entschuldigen Sie
mein Herr, wenn meine Antworten heute nicht er¬
schöpfend sind... Bitte, schreiben Sie Ihre Fragen
auf und ich verspreche Ihnen, daß Sie morgen mit
mir zufrieden sein werden."