VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 47

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Verwirrung der Gefühle. Von Stefan Zweig liegt ein neuer
den Novellenband im Insel-Verlag vor. Anscheinend durch den bei¬
en spiellosen Erfolg seines Landsmannes Jacob Wassermann ange¬
eit sport, schließt Stefan Zweig gleich jenem in seinem Novellen¬
werk mit dem Titel „der Wendekreis die Bände erstes Er¬
lebnis, Amok und Verwirrung der Gefühle zur „Kette“ zu
in sammen. Man könnte die drei, unter dem Oberbegriff Ver¬
ove-wirrung der Gefühle zusammengefaßten Novellen im Gegensatz
Teil zu Stefan Zweigs erstem Bande letztes Erlebnis nennen.
Nicht, als ob es Darstellungen von Sterbenden oder Selbst¬
mördern wären, vielmehr sind es Herzensregungen, entscheidende
ten Erlebnisse, die die Reaktionsfähigkeit der Seele ausschalten,
ebs-letzte Streiche für vom Leben zerfetzte Menschen. Das Brio
halb Stefan Zweigs ist atemversetzend, und man legt den Band
kaum aus der Hand, bevor man ihn nicht in einem Zuge ausge¬
lesen hat, was indes noch keinen Wert bedeutet. Gewiß, es ist
ein spannendes Buch und mit Ausnahme einiger gewollt klin¬
gender, eigentümlicher Wortverbindungen und der Häufung des
utert unschönen „anderseits in sehr lesbarem Deutsch geschrieben.
irch¬
Aber dessenungeachtet wirkt das Ganze zu gegenständlich, wie
euen ein glänzender Film. Stefan Zweig ist kein Shakespeare oder
viel¬
Wedekind, kein von der Dämonie Besessener, der die Materie
irde. bändigte und uns widerspruchslos niederzwänge. Er ermangelt
ben indes auch der Grazie und des Charme eines Arthur Schnitzler,
ber
der gewagte Themen immer wieder virtuos variiert und con
sordino erklingen läßt. Im Gegensatz zu Schnitzler, der, ins
Musikalische transponiert, etwa mit dem göttlichen Rubato und
der süßen Geigencantilene eines Puccini oder dem langsam wie¬
tie. genden Walzer von hinreißender Sentimentalität eines Franz
Lehr zu vergleichen wäre, fällt bei Stefan Zweig alles eine
Nuance gröber aus, etwa wie eine Oper Eugen d'Alberts oder
rei¬ die leichte Verfettung Emmerich Kalmans. Stefan Zweig weit
überdurchschnittliches Können abzusprechen, wäre kaum mög¬
lich, aber der tiefe Ernst fehlt in gleicher Weise, wie die leichte
Anmut. Darüber kann auch nicht das in der dritten, zweifellos
stärksten Novelle, die den Titel für den Band gab, angeschlagene
quasi tragische, androtrope Thema, die äußerliche Verbindung
mit Shakespeare und dem Geiste seiner Sonette, hinwegtäuschen.
Verwirrung der Gefühle wird zweifellos das Modebuch der
Saison werden, und man wird bei keinem 5-Uhr-Tee um dieses
Thema herumkommen. Etwas Neues hat uns Stefan Zweig
nicht gesagt, er schrieb ein überflüssiges Buch.
Vous auront
unter dem Titel
Le¬
A
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 3051
BERLINNA
Der Montag Morgen, Verlin
25. Okt. 1926
Versöhnungsvolles
Schlußwort des MM
Einerseits ist es gewiß schwer möglich, ein
abendfüllendes Stück zu beurteilen, wenn dem Zu¬
schauer bloß ein zusammengestützter Einakter vor¬
gesetzt wird. Andererseits ist es für den Inten¬
danten ein Kreuz mit den vom Ministerium be¬
stellten Stücken, warum, zum Teufel, läßt man
nicht Theaterleiter und Dichter direkt bei und vor
der Geburt verhandeln? Schuld ist also in erster
Linie der verständnislose Ministerialrat, der zuerst
bestellt und dann den Intendanten sorgen läßt.
Wichtiger als dieser für unsere Begriffe etwas
zu unhöflich geführte Streit ist die Frage: Warum,
wenn Jeßner mindestens den früheren Eulenberg
schätzt, warum hat er nicht ein einziges Mal daran
gedacht, ihn aufzuführen? Das Lustspiel „Der
natürliche Vater“ von Hofmannsthal, Pol-
gar, Salten und von Reinhardt, Wegener, Litz¬
mann ungewöhnlich geschätzte Lustspiel, um nur
dieses zu nennen, warum ist es seit der vor zwan¬
zig Jahren in den „Kammerspielen erfolgten Auf¬
führung für Berlin verschollen? Ist es nicht das¬
selbe mit den ungelesenen, zum Teil reizenden
Stücken von Schmidtbonn? Herr Jeßner ist
ein immer nach der neuesten Mode fassonierter
Mann. Das lob ich mir. Es muß so tadellos
modern frisierte Köpfe geben. Aber geht der aus¬
gezeichnete Mann nicht zuweilen gerade an seinen
Altersgenossen etwas schroff vorüber Arthur
Schnitzler erzählte einmal, er habe auf einen
freundlichen Brief nach einem halben Jahr eine
korrekte Antwort erhalten, für Gerhart Haupt¬
mann hat Jeßner bis vor kurzem bloß eine
sehr formelle Verbeugung. Zur Bildung
eines Spielplans aber ist, wie ich glaube,
mehr als so viel äußere Korrektheit nötig. Dazu
ist ein freudiges, zugreifendes Nehmen aus allen
Epochen notwendig. Und dann wäre in dem guten
romantischen Poeten Herbert Eulenberg in Düssel¬
dorf auch nicht so grauenhaft tiefer Groll ange¬
häuft.
Stefan Großmann.