VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 49

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Miscellaneous
Nr. 22310
2. Oktober 1723
Neue Freie Preuss.
Mein Bruder Thomas Mann und ich.
Von Heinrich Mann.
(Aus einem Gespräch.)
Gruppen unschuldig verurteilt werden, mich zu ihnen
Heinrich Mann ist in Wien eingetroffen und wird
bekennen und mich für ihre Befreiung einzusehen. Ich werde
Samstag um halb 8 Uhr abends im großen Musikvereins¬
in solchen Fällen niemals meinen Namen verweigern, falls
saale aus eigenen Schriften lesen. „Die eine Novelle, die ich
man ihn von mir verlangt.
vorlesen werde," erzählt der Dichter, „steht mit meinem dem
Meiner Herkunft nach bin ich selbstverständlich ebenso
nächst erscheinenden Roman „Mutter Maria
Bürgertum verwurzel, wie mein Bruder
innerem Zusammenhang. In diesem Roman behandle ich
Thomas. Mein gesamtes schriftstellerisches Schaffen
das Verhältnis zwischen der früheren und der jetzigen
Ausnahme eines einzigen Werkes, „Die Alpen",
Generation, zwischen den Eltern und Kind die Novelle
mit den Romanen „Der Untertan" und „Der Ko¬
stellt die Jugendgeschichte des Heldin des dar. Die
zu einer Trilogie verbunden ist, hat die bürgerliche Welt
zweite Novelle, die ich vorlesen werde, beschäftigt sich gleich¬
zum Gegenstand. Es hat mich sehr gefreut, daß ich meinem
hills mit einem Gegenwartsproblem. Die unbesieger¬
Roman, Die Armen" viele zustimmungsbundgebungen aus
Widerstandskraft eines jungen Menschen gegenüber der
dem Proletariat verdanke, in denen mir gesagt wird, daß
schmerzlichsten Erlebnissen gelangt darin zum Ausdruck.
ich auch die proletarische Welt gefühlsmäßig richtig erfaßt
Ich freue mich sehr über mein Wiedersehen mit dieser
habe. Und besonders beglückt hat es mich, daß ein sehr
Stadt, in der mein Bruder Thomas Mann im Vorjahre
weit linksstehender französischer Autor, Henri Poulaille,
zu seinem fünfzigsten Geburtstage so herzlich gefeiert worden
mir sein Buch „Die Geburtsstunde des Frie¬
ist. Ich glaube, daß diejenigen, die immer auf den künst¬
dens gewidmet hat. Diese Zueignung ist mir ein Bewei¬
lerischen Gegensatz zwischen meinem Bruder und mir hin¬
dafür, daß man sich in Frankreich von meiner Gesinnung
ein richtiges Bild macht.
gewiesen haben, im Unrecht sind. Es besteht zwischen und
Für Frankreich empfinde ich seit jeher eine be¬
eine viel wesentlichere Gemeinsamkeit, als es oberflächlichen
sondere Liebe, in der französischen Literatur fuis
trachtungsweise erscheinen mag. Bei aller Verschiedenheit
mich heimisch, und ich weiß mir nichts Schöneres, als die
dichterischen Ausdrucksmittel besteht doch zwischen
Mitarbeit an einer recht innigen Ausgestaltung der
mir
und
einem Bruder
geistigen Beziehungen zwischen Frank¬
geistige Verwandtschaft, und ich erinnere mich
reich und Deutschland. Es gehört zu meinen
gern eines Züricher Professors, der mir gegenüber darauf
stolzesten Erinnerungen, daß es mir vergönnt war, mitten im
hingewiesen hat.
sogenannten Ruhrkrieg in Paris für den Abbau des Hasse¬
Von den Arbeiten meines Bruders steht mir der „Tod
und für eine Annäherung zwischen Deutschland und Frank¬
in Venedig menschlich deshalb am nächsten, weil ich
reich wirken zu können, und ich verabsäume es niemals, mich
mich mit meinem Bruder in Venedig aufgehalten und die
in denjenigen Organen der öffentlichen Meinung Frankreichs,
Stimmung, von der sein Buch erfüllt ist, gemeinsam mi¬
deren Mitarbeiter ich bin, zu dieser Idee zu bekennen.
ihm erlebt habe. Daß ich in den „Budenbroo¬
rechne es Coudenhove-Kalergi, mit dem mich
auf Schritt und Tritt wohlvertrauten Gestalten aus unsere
herzliche Freundschaft verbindet, besonders hoch an, daß
Jugend begegne, versteht sich von selbst. Welche literarisch
sich den Kampf für den Frieden zur Lebensaufgal
Bedeutung „Der Zauberberg hat, braucht man
gemacht hat. Als ich Coudenhove kennen lernte, war er
wohl nicht erst von mir zu erfahren. Was die „Betrach
philosophischen Problemen beschäftigt, die sich an der Grenz¬
tungen eines Unpolitischen betrifft, so steht
der Politik bewegten. Er sagte mir damals, daß er sich
nicht nur ich selbst gesinnungsmäßig weit links von diesem
einige Jahre ausschließlich der Paneuropäischen
Buche, sondern ich bin davon überzeugt, daß sich auch
Idee widmen wolle. Er betonte immer wieder, daß man sich
mein Bruder seit damals starb nach links
mit aller Kraft der bedrohlichen Gefahr eines neuen
entwickelt hat.
Krieges entgegenstemmen müsse
Man sagt mir mitunter, ich sei nach dem Umstur
Wenn ich meiner Freude über mein Wiedersehen mit
als Führer der jungen literarischen
Wien Ausdruck gebe, so hoffe ich, daß diese Bemerkung nicht
Generation, der sogenannten Aktivisten, be¬
als Höflichkeitsphrase, sondern als meine innerste Ueber¬
trachtet worden. Nun, meiner angeblichen Führerrolle war ich
zeugung aufgefaßt werde. Als ich das letztemal vor fünf
mir jedenfalls niemals bewußt. Die politische Betätigung
Jahren anläßlich der Aufführung meiner „Madame
der Intellektuellen schien mir oft ein bischen wirr und
Degros in Wien war, ging es hier sehr unruhig zu. Aber
planlos und ich bin schon seit längerer Zeit ausschließlich
selbst trotz aller Straßenkrawalle schien mir Wien damals
mit künstlerischen Problemen beschäftigt. Uebrigens ist ja
liebenswürdig und bezaubernd wie immer. Wien ist für mich
das Leben in Deutschland schon längst wieder ruhiger ge¬
und wohl für jeden zeitgenössischen Schriftsteller vor allem die
worden, und ich habe den Eindruck, daß sich die gesamte
Stadt, in der Arthur Schnitzler lebt und schafft. Berlin
Schriftstellergeneration von heute durchaus nicht mehr für
hat meiner Ansicht nach kein Gegenstück zu jener wienerischen
Politik, sondern wieder vor allem für jene ästhetischen
Literatur, die in Schnitzler so glanzvoll verkörpert ist.
philosophischen und literarischen Fragen interessiert, die ihr
Herlin hat keinen Dichter, den es seinen
naturgemäß im nächsten liegen müssen. Wenn ich mich
Arthur Schnitzler nennen könnte. Ich freue
aber auch an politischen Leben nicht beteilige, so halte ich
mich über meinen Besuch in der Stadt, die im schönsten Sinne
es dennoch für meine selbstverständliche Pflicht, in allen
jenen häufigen Fällen, in denen Angehörige linksorientierter Arthur Schnitzlers Heimat ist.
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