VII, Verschiedenes 11, 1926–1929, Seite 6

1. Miscellaneous
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Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Telefon: Norden 3051
Ausschnitt aus:
Magdeburger Generalanzeiger
Dez. 192
Der Weihnachtsbaum.
Im Stile verschiedener Dichter.
Dargestellt von Ezard Lanins.
Goethe.
So laut wie die Spatzen unserer freien
Stadt waren, die mehr lärmten als ihre
Schwestern und Brüder in irgendeinem ge¬
drückten Landflecken oder Dörfchen — so laut
waren wir Kinder vor der verschlossenen Tür
der weihnachtlich zugerichteten Stube. Als wir
endlich in diese eintreten durften, brannte uns
mit zahlreichen Lichtern

ungewohnt, der uns in die Augen stach, lausch¬
ten wir den Klängen des Fortepianos, das, mit
zwei Kerzen freundlich bescheiden geziert, die
Weise des Christfestes erklingen ließ, wie aus
himmlischen Flöten fielen die Töne durch die
Weihnachtsnacht, festlich und mit einer unbe¬
kannten Freude unsere Seelen bewegend.
Raabe:
Es möchte recht närrisch anzusehen sein, wie
Wilhelmine, Paula und ich in die Stube sol¬
perten und holperten, ein bißchen betrunken von
unserem im Nebenzimmer vollführten Radau,
doch nun vor dem weiß gedeckten Tisch mit dem
Weihnachtsbaumchen recht verlegen. Die Er¬
wachsenen freilich wußten sich noch viel weniger
zu benehmen als wir; denn an diesem Tage
regierten wir, und wenn wir drei Kinder plötz¬
lich etwas kleinlaut wurden, so nicht aus Furcht
vor den Großen, sondern in einer Art Schen
vor dem Bäumchen, das den langen Weg aus
unserem lieben schattigen Walde hier hinein in
die gute Stube gemacht hatte, recht eigentlich
nur, um uns eine Freude zu machen und mit
seinem von Lichtern und Lametta versteckten
Grün heimlich in Aug und Herz zu scheinen.
Storm:
Meine Mutter führt das Kleinste selbst an
der Hand. Wir zwei größeren Kinder schritten
allein, aber Hand in Hand im Schatten ihres
langen, bauschigen Rockes, bis dicht an den
Tisch mit dem brennenden Baum heran. Viel
gutwärmende Kleidungsstücke lagen da und
süße Näschereien. Ich faßte zuerst nach meinem
Taschenmesser, obwohl es gegenüber der Pup¬
penbühne, die mein Bruder sofort mit Ausrufen
begrüßte, das unscheinbarere Geschenk war. Als
wir uns satt gesehen hatten, ward das Fenster
geöffnet, und meine Mutter setzte sich, das
Kleinste auf dem Schoße, an das Klavier, um
die Weihnachtsweise zu spielen. Wir hatten
unser Verslein wohl gelernt, und wenn unsere
dünnen Stimmchen etwas vom geraden Wege
der Melodie abirrten, fiel mein Vater, der
hinter meiner Mutter stand und seine Hand
auf ihre Schulter legte, mit kräftiger Stimme ein.
Marlitt:
Seligkeit brannte in unseren kindlichen Ge¬
mütern, da die Tür ausging zur Stube mit
den herrlichen Weihnachtsgeschenken. Was war
der schöne Weihnachtsbaum aber gegen die
Freude, die an jenem Abend in unser Herz ge¬
langte, dort tiefe Wurzeln schlug und sich als
Funke der Tugend und später als weithin
leuchtende Flamme edler reiner Menschlichkeit
entfalten sollte. Ein Kind, das Weihnachten in
der Geborgenheit des Heimathauses und um¬
geben von der ebenso edlen wie zärtlichen
Liebe der Eltern in dieser Weise erlebt, wird
sicherlich sein ganzes Leben lang einen Weg ein¬
schlagen, auf welchem zu wandeln jeden Men¬
schen ziert, mag er im Grafenschloß oder im
Bettlerhaus geboren sein.
Schnitzler:
Der Weihnachtsbaum brannte, und unsere
Eltern reichten sich die Hände, wie nach einer
Versöhnung. Ich selbst habe meinen Vater
niemals so zärtlich zu unserer Mutter reden
hören wie an jenem Abend. Ich bekam ein
Paar Pumphosen und eine Eisenbahn, die frei¬
lich nach den ersten drei Fahrversuchen ein
Opfer ihrer schlechten Konstruktion wurde.
Mein Vater hob an jenem Tage jedes Kind
och in die Luft, drückte es an seine Wange,
die an diesem Abend glatt war wie nie zuvor,
und ließ gleichzeitig unsere Mutter an dieser
in der Luft vor sich gehenden Liebkosung teil¬
nehmen. Ein ungekanntes Gefühl durchrieselte
ich, — es möchte das erste seiner Art in
einem Leben sein — als ich das Glück hatte,
bei dieser Umarmung dem Hals meiner Mutter
so nahe zu kommen, daß ich mit meinem Atem
die kleinen, sonst nicht sichtbaren Härchen in
ihrem Nacken bewegen konnte.
Sternheim:
Weihnachtliche Freude, aus Lebkuchendust,
Nadelgeruch und Kerzen süß=verhängnisvoll
aufsteigend, uns Kindern stieg in Nase, Juste¬
Milien=Anschauung
hier im Keime gelegt
habend, verschwand Weihnachtsbaum zwar zu
Beginn neuen Jahres aus unserer Stube, doch
nicht aus Innerem der Kinder, in ihnen ge¬
fährlichen Hang zur Bürgerlichkeit zurücklassend.
Werfel:
Der langen, schmerzlichen Wartezeit, ver¬
bracht wie vor den Toren des Paradieses,
folgte ein Türöffnen, ein Choral von Weih¬
nachtskerzen, ein Aufschrei aus unseren Kehlen.
dern um den weißen Tisch herum