VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 101

12. Schnitzler's Death 12. Schnitzler's Death
Im Jähr 1900 gingen wir, mit Freunden, halbnachts von Tirol Im Jähr 1900 gingen wir, mit Freunden, halbnachts von Tirol
über das Schlapina-Joch in die Schweiz. Mit Rucksäcken und über das Schlapina-Joch in die Schweiz. Mit Rucksäcken und
einem Führer. Die Welt lag offen. einem Führer. Die Welt lag offen.
Dreimal trafen wir uns später in Wien. Oft im Grunewald. Dreimal trafen wir uns später in Wien. Oft im Grunewald.
Ich habe seinen Anfang begleitet; in Freundschaft sein Ich habe seinen Anfang begleitet; in Freundschaft sein
Leben. Leben.
Immer wollten wir gemeinsam mal nach einem Ort im Früh¬ Immer wollten wir gemeinsam mal nach einem Ort im Früh¬
ling fahren, bei Wien, der (glaub ich) Weidling am Bach heisst. ling fahren, bei Wien, der (glaub ich) Weidling am Bach heisst.
Noch als er in meiner Krankheit zu mir kam, beschlossen wir: Noch als er in meiner Krankheit zu mir kam, beschlossen wir:
in einem Frühling die Fahrt nach Weidling am Bach. Mir in einem Frühling die Fahrt nach Weidling am Bach. Mir
fehlt noch immer der Begriff, wo das eigentlich liegt, noch, was fehlt noch immer der Begriff, wo das eigentlich liegt, noch, was
das ist. Es soll österreichisch-herrlich sein. Ich glaubte da¬ das ist. Es soll österreichisch-herrlich sein. Ich glaubte da¬
mals, vor ihm zu sterben. mals, vor ihm zu sterben.
Wann fahren wir nach Weidling am Bach? Nie. Wann fahren wir nach Weidling am Bach? Nie.
Alfred Kerr. Alfred Kerr.
SCHNITZLERS HAUS. SCHNITZLERS HAUS.
WIEN, 22. Oktober. WIEN, 22. Oktober.
In dem Monat, den er am meisten liebte, ist Schnitzler aus In dem Monat, den er am meisten liebte, ist Schnitzler aus
Wien und der Welt weggegangen. Im Oktober ist diese Welt noch Wien und der Welt weggegangen. Im Oktober ist diese Welt noch
bunt, obwohl sie zum Tode verurteilt ist, der November hat keine bunt, obwohl sie zum Tode verurteilt ist, der November hat keine
Aussicht mehr, auf die Häuserhügel und Täler Wiens und auf Aussicht mehr, auf die Häuserhügel und Täler Wiens und auf
Weiterleben. Den blätterlosen Herbst hat Schnitzler nicht mehr Weiterleben. Den blätterlosen Herbst hat Schnitzler nicht mehr
abgewartet. Er ist mit seinem stillen Gesicht aus Wien und aus abgewartet. Er ist mit seinem stillen Gesicht aus Wien und aus
Oesterreich fortgegangen. Oesterreich fortgegangen.
Die kleine Villa in der Sternwartestrasse! Das geliebte, teure Die kleine Villa in der Sternwartestrasse! Das geliebte, teure
Haus stiller und stillster Zwiegespräche! Es liegt mit seinen Haus stiller und stillster Zwiegespräche! Es liegt mit seinen
schönen Bäumen wie sonst und weiss nichts. Doch der Raum, schönen Bäumen wie sonst und weiss nichts. Doch der Raum,
in dem ein Dichter lebt, weiss alles von ihm, kennt Anfang und in dem ein Dichter lebt, weiss alles von ihm, kennt Anfang und
Ende. Er färbt sich vom Hauch dieser Gedanken. Dach und Ende. Er färbt sich vom Hauch dieser Gedanken. Dach und
Mauern gehören zum Dichter wie seine Hand und seine Stirn. Mauern gehören zum Dichter wie seine Hand und seine Stirn.
Die Sternwartestrasse hat ihren Namen vom astronomischen In¬ Die Sternwartestrasse hat ihren Namen vom astronomischen In¬
stitut der Wiener Universität. Das ist ein guter Strassenname stitut der Wiener Universität. Das ist ein guter Strassenname
für das Haus eines grossen Erkenners. Denn ein Observatorium für das Haus eines grossen Erkenners. Denn ein Observatorium
der Worte: das war Schnitzlers Haus. Hier wurden die Worte der Worte: das war Schnitzlers Haus. Hier wurden die Worte
gewartet, geweidet und gemessen wie Sterne des Makrokosmus. gewartet, geweidet und gemessen wie Sterne des Makrokosmus.
Aus diesem Heim der Bücher und Worte ist er noch gestern Aus diesem Heim der Bücher und Worte ist er noch gestern
spazieren gegangen, wenige Stunden vor seinem Tode: den spazieren gegangen, wenige Stunden vor seinem Tode: den
alten, vieljährigen Spaziergang, den man bald „Schnitzler-Weg alten, vieljährigen Spaziergang, den man bald „Schnitzler-Weg
nennen wird. Den Weg durch das Cottage, das Viertel der nennen wird. Den Weg durch das Cottage, das Viertel der
Reichen, darin so viel seiner Kunst sich abspielt. Schnitzler hat Reichen, darin so viel seiner Kunst sich abspielt. Schnitzler hat
das Villenviertel, die Stadt der reichen Leute Wiens, geliebt, das Villenviertel, die Stadt der reichen Leute Wiens, geliebt,
hat es auch sanft verspottet. Er hat jede Kleinheit dieses hat es auch sanft verspottet. Er hat jede Kleinheit dieses
Lebens aufrichtig eine Kleinheit genannt, hat aber grossen Lebens aufrichtig eine Kleinheit genannt, hat aber grossen
Aunate. Aunate.

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Schmerz empfunden, dass sie keine Grösse war. Wie richtig Schmerz empfunden, dass sie keine Grösse war. Wie richtig
stimmen Mass und Gewicht in all den geschriebenen Schick¬ stimmen Mass und Gewicht in all den geschriebenen Schick¬
salen, die er auf die Bühne gestellt hat, und die er im Roman salen, die er auf die Bühne gestellt hat, und die er im Roman
hinsetzte! Was für ein gerechter Wortesetzer war Arthur hinsetzte! Was für ein gerechter Wortesetzer war Arthur
Schnitzler, von dem mancher sagte, er kenne nur die eigene Schnitzler, von dem mancher sagte, er kenne nur die eigene
Schicht. Mochte dies stimmen: er hat diese Schicht der Schicht. Mochte dies stimmen: er hat diese Schicht der
Reichen niemals überschätzt. Reichen niemals überschätzt.
Sternwartestrasse 71! Das ist ein Haus, das zwar in Wien Sternwartestrasse 71! Das ist ein Haus, das zwar in Wien
liegt, das zugleich auch anderswo liegt, weil es am Rande und liegt, das zugleich auch anderswo liegt, weil es am Rande und
oberhalb der Stadt liegt. Es war das Haus eines Observators, oberhalb der Stadt liegt. Es war das Haus eines Observators,
der abends die Lichtketten ferner Strassen, wenn sie aus dem der abends die Lichtketten ferner Strassen, wenn sie aus dem
Nebel tauchten, zu betrachten und anzuträumen liebte. Einst Nebel tauchten, zu betrachten und anzuträumen liebte. Einst
Arzt, dann Dichter ist er gewesen. Stets Musiker! Ein Billroth Arzt, dann Dichter ist er gewesen. Stets Musiker! Ein Billroth
der Seele, ein echter Wiener, der, bevor er das Messer nahm — der Seele, ein echter Wiener, der, bevor er das Messer nahm —
das zierliche, aber scharfe Messer —, die Stellen, an denen er das zierliche, aber scharfe Messer —, die Stellen, an denen er
ansetzen wollte, in tiefe Schmerzlosigkeit hüllie. Denn jedes ansetzen wollte, in tiefe Schmerzlosigkeit hüllie. Denn jedes
Weh in seinen Dramen heilt sich von seibst, bleibt nicht lange Weh in seinen Dramen heilt sich von seibst, bleibt nicht lange
Weh. Und wie er als Dichter ein wahrer Arzt, ein weiser Weh. Und wie er als Dichter ein wahrer Arzt, ein weiser
Hygokratiker war, so schien sein Menschsein voller Musik. Der Hygokratiker war, so schien sein Menschsein voller Musik. Der
Wochsel zwischen Dur und Moll, den, manchmal in einem Wochsel zwischen Dur und Moll, den, manchmal in einem
einzigen Takt, Arthur Schnitzlers Gespräche kannten — man einzigen Takt, Arthur Schnitzlers Gespräche kannten — man
kannte ihn aus den Werken Franz Schaberts. kannte ihn aus den Werken Franz Schaberts.
„Der Ruf des Lebens“ hiess das Stück, das er — freundliche „Der Ruf des Lebens“ hiess das Stück, das er — freundliche
Ironie! — der Sekretärin von neuem diktieren wollte. Ihn Ironie! — der Sekretärin von neuem diktieren wollte. Ihn
rief nicht das Leben, ihn rief der Tod: jenes Reich des ewigen rief nicht das Leben, ihn rief der Tod: jenes Reich des ewigen
Mohns, wohin ihm die geliebte Tochter freiwillig voraus¬ Mohns, wohin ihm die geliebte Tochter freiwillig voraus¬
gegangen war gegangen war
Heinrich Eduard Jacob. Heinrich Eduard Jacob.
DER NACHLASS. DER NACHLASS.
Aus Wien wird uns berichtet: Im Nachlass von Arthur Aus Wien wird uns berichtet: Im Nachlass von Arthur
Schnitzler befindet sich ein Schauspiel mit dem Titel: „Der Zug Schnitzler befindet sich ein Schauspiel mit dem Titel: „Der Zug
der Schatten.“ Es ist nicht bekannt, ob es vollendet ist. Ausser¬ der Schatten.“ Es ist nicht bekannt, ob es vollendet ist. Ausser¬
dem hat Schnitzler in der letzten Zeit auch an einer Auto¬ dem hat Schnitzler in der letzten Zeit auch an einer Auto¬
biographie und an einem Roman gearbeitet, der aber Fragment biographie und an einem Roman gearbeitet, der aber Fragment
geblieben ist; ferner befinden sich im Nachlass zahlreiche Auf¬ geblieben ist; ferner befinden sich im Nachlass zahlreiche Auf¬
zeichnungen. zeichnungen.
Arthur Schnitzler hat schon vor Jahren den Dramaturgen der Arthur Schnitzler hat schon vor Jahren den Dramaturgen der
Reinhardt-Bühnen, Dr. Franz Horch, mit der Verwaltung seines Reinhardt-Bühnen, Dr. Franz Horch, mit der Verwaltung seines
Nachlasses betraut. Dr. Horch ist heute mittag in Wien ein¬ Nachlasses betraut. Dr. Horch ist heute mittag in Wien ein¬
getroffen, um die Sichtung des Nachlasses vorzunehmen. Im getroffen, um die Sichtung des Nachlasses vorzunehmen. Im
Schreibzimmer Schnitzlers befindet sich ein grosser Schrank mit Schreibzimmer Schnitzlers befindet sich ein grosser Schrank mit
vielen Laden. In jeder dieser Laden ist ein Manuskript Schnitz¬ vielen Laden. In jeder dieser Laden ist ein Manuskript Schnitz¬
lers aufbewahrt. lers aufbewahrt.
Eine Anzahl von Manuskripten hat Schnitzler seinen Freunden Eine Anzahl von Manuskripten hat Schnitzler seinen Freunden
geschenkt. So besitzt Stefan Zweig eine Sammlung solcher geschenkt. So besitzt Stefan Zweig eine Sammlung solcher
Manuskripte. Manuskripte.