ganze Welt siegte und besonders in romanischen Ländern verstanden ganze Welt siegte und besonders in romanischen Ländern verstanden
wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬ wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬
mus nicht viel Verständnis aufbrachte. mus nicht viel Verständnis aufbrachte.
„Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat, „Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat,
als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem
Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬ Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬
lagen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es lagen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es
ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird
kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt
sich in Zärtlichkeit- Manchmal geht hier und da ein Mensch in die sich in Zärtlichkeit- Manchmal geht hier und da ein Mensch in die
Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬ Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬
rettenmäßig. rettenmäßig.
Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst, Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst,
verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte, verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte,
schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die
Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören, Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören,
gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen
in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas
seltsam tostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der seltsam tostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der
Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwermütig-frohe Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwermütig-frohe
Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es - Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es -
dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das
ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die
— wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere - — wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere -
das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬ das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬
einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes
wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬ wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬
ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens
für die Nachwelt aufgezeichnet für die Nachwelt aufgezeichnet
Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende
Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als
Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬ Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬
wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren, wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren,
die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und
in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank. in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank.
Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen. Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen.
Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu
Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des
Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn
entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den
„Reigen“, ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig „Reigen“, ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig
Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben
und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird
olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen
diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders
in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler
einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist
der Anmut. der Anmut.
Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in
seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein
Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch
freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬ freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬
opfern. Und es fehlen unter den Schnitzlerschen Menschen, die so opfern. Und es fehlen unter den Schnitzlerschen Menschen, die so
liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter. liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter.
Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die
Melancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl Melancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl
und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt
sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬ sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬
schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬ schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬
wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den
Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬ Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬
geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte. geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte.
Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen, Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen,
die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬ die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬
spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬ spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬
genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert
Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er
deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬ deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬
steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus, steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus,
der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte
und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬ und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬
storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der
Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist. Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist.
Max Rochdort, Max Rochdort,
AUSSCHMTT VOM: AUSSCHMTT VOM:
22. OKI. 1931 22. OKI. 1931
Chemnitzer Tageblatt, Chemnitz Chemnitzer Tageblatt, Chemnitz
Arthur Schnitzler gestorben Arthur Schnitzler gestorben
Zehn Jahre nach Anakols Tod Zehn Jahre nach Anakols Tod
Wjen, 21. Okt. (Drahtb.) Wjen, 21. Okt. (Drahtb.)
Der bekannte österreichische Dramatiker Dr. Der bekannte österreichische Dramatiker Dr.
Arthur Schnitzler ist am Mittwoch im Arthur Schnitzler ist am Mittwoch im
69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag 69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag
erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬ erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬
blutung und verschied nach mehrstündiger blutung und verschied nach mehrstündiger
Bewußtlosigkeit. Bewußtlosigkeit.
Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete
sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und
ormovierte an der Wiener Universität. Er war ormovierte an der Wiener Universität. Er war
Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich
dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen. dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen.
Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“. Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“.
die in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlicht die in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlicht
wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen
Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬ Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬
fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬ fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬
titels für verlustig erklärt wurde. titels für verlustig erklärt wurde.
Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen
Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und
einer Welt, die, genau genommen, schon seit einer Welt, die, genau genommen, schon seit
Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie
äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬ äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬ raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬
schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in
den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬ den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬
musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden
Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen
Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk
überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die
Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur
noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes
Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in
Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen. Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen.
Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende, Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende,
kluge und in allen Dingen des Lebens und der kluge und in allen Dingen des Lebens und der
Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht
mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls, mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls,
ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in
„Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel „Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel
eines Einakters aus dem Anatol=Zyklus eines Einakters aus dem Anatol=Zyklus
lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im
letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten, letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten,
die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬ die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬
keit, wie im „Einsamen Weg“, welches Stück keit, wie im „Einsamen Weg“, welches Stück
in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde. in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde.
Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬ Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬
gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge, gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge,
der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬ der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬
boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf
die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬ die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬
test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬ test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬
rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz
dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der
zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses
doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬ doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬
wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬ wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬
mus nicht viel Verständnis aufbrachte. mus nicht viel Verständnis aufbrachte.
„Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat, „Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat,
als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem
Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬ Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬
lagen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es lagen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es
ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird
kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt
sich in Zärtlichkeit- Manchmal geht hier und da ein Mensch in die sich in Zärtlichkeit- Manchmal geht hier und da ein Mensch in die
Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬ Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬
rettenmäßig. rettenmäßig.
Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst, Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst,
verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte, verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte,
schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die
Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören, Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören,
gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen
in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas
seltsam tostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der seltsam tostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der
Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwermütig-frohe Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwermütig-frohe
Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es - Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es -
dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das
ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die
— wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere - — wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere -
das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬ das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬
einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes
wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬ wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬
ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens
für die Nachwelt aufgezeichnet für die Nachwelt aufgezeichnet
Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende
Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als
Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬ Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬
wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren, wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren,
die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und
in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank. in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank.
Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen. Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen.
Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu
Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des
Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn
entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den
„Reigen“, ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig „Reigen“, ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig
Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben
und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird
olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen
diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders
in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler
einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist
der Anmut. der Anmut.
Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in
seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein
Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch
freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬ freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬
opfern. Und es fehlen unter den Schnitzlerschen Menschen, die so opfern. Und es fehlen unter den Schnitzlerschen Menschen, die so
liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter. liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter.
Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die
Melancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl Melancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl
und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt
sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬ sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬
schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬ schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬
wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den
Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬ Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬
geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte. geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte.
Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen, Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen,
die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬ die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬
spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬ spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬
genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert
Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er
deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬ deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬
steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus, steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus,
der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte
und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬ und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬
storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der
Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist. Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist.
Max Rochdort, Max Rochdort,
AUSSCHMTT VOM: AUSSCHMTT VOM:
22. OKI. 1931 22. OKI. 1931
Chemnitzer Tageblatt, Chemnitz Chemnitzer Tageblatt, Chemnitz
Arthur Schnitzler gestorben Arthur Schnitzler gestorben
Zehn Jahre nach Anakols Tod Zehn Jahre nach Anakols Tod
Wjen, 21. Okt. (Drahtb.) Wjen, 21. Okt. (Drahtb.)
Der bekannte österreichische Dramatiker Dr. Der bekannte österreichische Dramatiker Dr.
Arthur Schnitzler ist am Mittwoch im Arthur Schnitzler ist am Mittwoch im
69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag 69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag
erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬ erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬
blutung und verschied nach mehrstündiger blutung und verschied nach mehrstündiger
Bewußtlosigkeit. Bewußtlosigkeit.
Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete
sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und
ormovierte an der Wiener Universität. Er war ormovierte an der Wiener Universität. Er war
Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich
dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen. dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen.
Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“. Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“.
die in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlicht die in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlicht
wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen
Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬ Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬
fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬ fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬
titels für verlustig erklärt wurde. titels für verlustig erklärt wurde.
Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen
Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und
einer Welt, die, genau genommen, schon seit einer Welt, die, genau genommen, schon seit
Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie
äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬ äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬ raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬
schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in
den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬ den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬
musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden
Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen
Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk
überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die
Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur
noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes
Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in
Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen. Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen.
Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende, Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende,
kluge und in allen Dingen des Lebens und der kluge und in allen Dingen des Lebens und der
Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht
mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls, mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls,
ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in
„Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel „Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel
eines Einakters aus dem Anatol=Zyklus eines Einakters aus dem Anatol=Zyklus
lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im
letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten, letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten,
die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬ die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬
keit, wie im „Einsamen Weg“, welches Stück keit, wie im „Einsamen Weg“, welches Stück
in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde. in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde.
Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬ Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬
gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge, gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge,
der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬ der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬
boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf
die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬ die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬
test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬ test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬
rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz
dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der
zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses
doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬ doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬