ora ora
Arthur Schnitzler ist am Arthur Schnitzler ist am
69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag 69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag
erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬ erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬
blutung und verschied nach mehrstündiger blutung und verschied nach mehrstündiger
Bewußtlosigkeit. Bewußtlosigkeit.
Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete
sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und
promovierte an der Wiener Universität. Er war promovierte an der Wiener Universität. Er war
Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich
dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen. dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen.
Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“, Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“,
die in der „Neuen Freien Presse“ veröfsentlicht die in der „Neuen Freien Presse“ veröfsentlicht
wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen
Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬ Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬
fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬ fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬
titels für verlustig erklärt wurde. titels für verlustig erklärt wurde.
Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen
Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und
einer Welt, die, genau genommen, schon seit einer Welt, die, genau genommen, schon seit
Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie
äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬ äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬ raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬
schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in
den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬ den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬
musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden
Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen
Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk
überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die
Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur
noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes
Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in
Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen. Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen.
Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende, Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende,
kluge und in allen Dingen des Lebens und der kluge und in allen Dingen des Lebens und der
Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht
mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls, mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls,
ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in
„Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel „Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel
eines Einakters aus dem Anatol-Zyklus eines Einakters aus dem Anatol-Zyklus
lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im
letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten, letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten,
die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬ die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬
keit, wie im „Einsamen Weg", welches Stück keit, wie im „Einsamen Weg", welches Stück
in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde. in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde.
Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬ Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬
gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge, gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge,
der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬ der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬
boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf
die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬ die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬
test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬ test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬
rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz
dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der
zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses
doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬ doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬
gen die Rede ist; zeugekräftig und gebärwillig gen die Rede ist; zeugekräftig und gebärwillig
sind Schnitzlers Dirnen, Dandys „Süße Mädels“, sind Schnitzlers Dirnen, Dandys „Süße Mädels“,
Grafen und Schauspielerinnen nun einmal nicht; Grafen und Schauspielerinnen nun einmal nicht;
das „Annchen“ und „Hanschen“ in Max Halbes das „Annchen“ und „Hanschen“ in Max Halbes
„Iugend“ sind ihr gerades Gegenteil. Der „Rei¬ „Iugend“ sind ihr gerades Gegenteil. Der „Rei¬
gen“ ward übrigens auch in Chemnitz gegeben, gen“ ward übrigens auch in Chemnitz gegeben,
und zwar im Sommer 1922 in einer höchst primi¬ und zwar im Sommer 1922 in einer höchst primi¬
tiven Aufführung des damaligen Thalia¬ tiven Aufführung des damaligen Thalia¬
Theaters. Theaters.
Ein einziges Mal hat Schnitzler versucht, Ein einziges Mal hat Schnitzler versucht,
ein interessantes Problem kämpferisch zu gestal¬ ein interessantes Problem kämpferisch zu gestal¬
ten, und zwar im „Professsor Bernhardi“, ten, und zwar im „Professsor Bernhardi“,
den wir 1924 im Chemnitzer Opernhaus in einer den wir 1924 im Chemnitzer Opernhaus in einer
ausgezeichneten Aufführung sahen. Der heutigen ausgezeichneten Aufführung sahen. Der heutigen
Generation, der neuen und wirklichen Generation, der neuen und wirklichen
Jugend, hatte er nichts zu sagen; Anatol ist Jugend, hatte er nichts zu sagen; Anatol ist
längst vor ihm gestorben, im Karpathenkrieg ge¬ längst vor ihm gestorben, im Karpathenkrieg ge¬
fallen, in der Inflation verkommen oder Unter fallen, in der Inflation verkommen oder Unter
W. B. W. B.
die Schieber gegangen. die Schieber gegangen.
Arthur Schnitzler ist am Arthur Schnitzler ist am
69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag 69. Lebensjahre gestorben. Am Vormittag
erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬ erlitt er auf einem Spaziergang eine Gehirn¬
blutung und verschied nach mehrstündiger blutung und verschied nach mehrstündiger
Bewußtlosigkeit. Bewußtlosigkeit.
Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete Schnitzler, dessen Vater Arzt war, widmete
sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und sich ebenfalls zunächst medizinischen Studien und
promovierte an der Wiener Universität. Er war promovierte an der Wiener Universität. Er war
Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich Regimentsarzt, später praktischer Arzt, um sich
dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen. dann vollständig der Schriftstellerei zu widmen.
Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“, Eine seiner ersten Novellen, „Leutnant Gustl“,
die in der „Neuen Freien Presse“ veröfsentlicht die in der „Neuen Freien Presse“ veröfsentlicht
wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen wurde, hatte zur Folge, daß gegen ihn wegen
Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬ Beleidigung der Armee ein ehrenrechtliches Ver¬
fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬ fahren eingeleitet und er seines Regimentsarzt¬
titels für verlustig erklärt wurde. titels für verlustig erklärt wurde.
Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen Er ist der bedeutendste Vertreter der typischen
Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und Wiener Dekadenz, der Dekadenz einer Stadt und
einer Welt, die, genau genommen, schon seit einer Welt, die, genau genommen, schon seit
Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie Jahrhunderten in Agonie lag. Diese Agonie
äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬ äußert sich freilich nicht in der wilden Wahnsinns¬
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬ raserei eines Wedekind, nicht in der selbstzerflei¬
schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in schenden Grübelei eines Strindberg, sondern in
den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬ den hauchzartesten Tönen verklingender Geigen¬
musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden musik und erlöschenden Abendrotes, in der müden
Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen Schönheit fallender Blätter. Von den gleichen
Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk Tönen und Farben ist auch Schnitzlers Werk
überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die überhaucht; seine Menschen haben nicht mehr die
Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur Kraft zur Liebe auf Tod und Leben, sondern nur
noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes noch zur „Liebelei“, wie sein bekanntestes
Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in Stück heißt, das wir vor zwei Jahren auch in
Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen. Chemnitz mit Käthe Dorsch als Gast sahen.
Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende, Schnitzlers Menschen — sehr subtil empfindende,
kluge und in allen Dingen des Lebens und der kluge und in allen Dingen des Lebens und der
Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht Kunst erfahrene Menschen — haben auch nicht
mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls, mehr die Kraft zum Herzschlage großen Gefühls,
ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in ihre Wünsche und Sehnsüchte sind vielmehr in
„Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel „Agonie“ begriffen, wie der bezeichnende Titel
eines Einakters aus dem Anatol-Zyklus eines Einakters aus dem Anatol-Zyklus
lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im lautet. Und wenn wirklich noch Sehnsucht im
letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten, letzten Wunsche flackert, so geht sie nach unten,
die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬ die Stufen hinab ins dunkle Reich der Einsam¬
keit, wie im „Einsamen Weg", welches Stück keit, wie im „Einsamen Weg", welches Stück
in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde. in Chemnitz mit Bassermann gespielt wurde.
Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬ Sehr umkämpft wurde Schnitzlers „Rei¬
gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge, gen“, ein Dialogzyklus um geschlechtliche Dinge,
der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬ der vor dem Kriege in Deutschland als Buch ver¬
boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf boten war, nach dem Kriege indessen sogar auf
die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬ die Bühne gebracht wurde und den heftigen Pro¬
test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬ test aller gesund empfindenden Menschen hervor¬
rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz rief. Besonders charakteristisch für die Dekadenz
dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der dieses „Reigens“ ist die Tatsache, daß trotz der
zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses zehnmaligen Abwandlung sinnlichen Genusses
doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬ doch nicht ein einziges Mal von eventuellen Fol¬
gen die Rede ist; zeugekräftig und gebärwillig gen die Rede ist; zeugekräftig und gebärwillig
sind Schnitzlers Dirnen, Dandys „Süße Mädels“, sind Schnitzlers Dirnen, Dandys „Süße Mädels“,
Grafen und Schauspielerinnen nun einmal nicht; Grafen und Schauspielerinnen nun einmal nicht;
das „Annchen“ und „Hanschen“ in Max Halbes das „Annchen“ und „Hanschen“ in Max Halbes
„Iugend“ sind ihr gerades Gegenteil. Der „Rei¬ „Iugend“ sind ihr gerades Gegenteil. Der „Rei¬
gen“ ward übrigens auch in Chemnitz gegeben, gen“ ward übrigens auch in Chemnitz gegeben,
und zwar im Sommer 1922 in einer höchst primi¬ und zwar im Sommer 1922 in einer höchst primi¬
tiven Aufführung des damaligen Thalia¬ tiven Aufführung des damaligen Thalia¬
Theaters. Theaters.
Ein einziges Mal hat Schnitzler versucht, Ein einziges Mal hat Schnitzler versucht,
ein interessantes Problem kämpferisch zu gestal¬ ein interessantes Problem kämpferisch zu gestal¬
ten, und zwar im „Professsor Bernhardi“, ten, und zwar im „Professsor Bernhardi“,
den wir 1924 im Chemnitzer Opernhaus in einer den wir 1924 im Chemnitzer Opernhaus in einer
ausgezeichneten Aufführung sahen. Der heutigen ausgezeichneten Aufführung sahen. Der heutigen
Generation, der neuen und wirklichen Generation, der neuen und wirklichen
Jugend, hatte er nichts zu sagen; Anatol ist Jugend, hatte er nichts zu sagen; Anatol ist
längst vor ihm gestorben, im Karpathenkrieg ge¬ längst vor ihm gestorben, im Karpathenkrieg ge¬
fallen, in der Inflation verkommen oder Unter fallen, in der Inflation verkommen oder Unter
W. B. W. B.
die Schieber gegangen. die Schieber gegangen.