VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 127

ganze Welt siegte und besonders in romanischen Ländern verstanden ganze Welt siegte und besonders in romanischen Ländern verstanden
wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬ wurde, wo man für den herben, sachlichen norddeutschen Naturalis¬
mus nicht viel Verständnis aufbrachte. mus nicht viel Verständnis aufbrachte.
„Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat, „Anatol": Ein junger Herr, der nichts anderes zu tun hat,
als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem als sich der Liebe zu widmen, der eleganten Liebe wie der aus dem
Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬ Volk geholten. Sein Sinnspruch: „Sie hat in meinen Armen ge¬
legen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es legen, sie ist heilig.“ Das ist Mut, das ist Uebermut, aber es
ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird ist auch eine große Gutmütigkeit. Zwischen den Geschlechtern wird
kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt kein leidenschaftlicher Kampf ausgekämpft, sondern man verständigt
sich in Zärtlichkeit. Manchmal geht hier und da ein Mensch in die sich in Zärtlichkeit. Manchmal geht hier und da ein Mensch in die
Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬ Brüche, doch alles geschieht artig, manierlich und auch — ope¬
rettenmäßig rettenmäßig
Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst, Schnitzlers Sanftheit, die Anmut, mit der er Lebensrätsel löst,
verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte, verrät stets, daß er sehr viel Musik im Blut hatte: eine leichte,
schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die schwingende, schwebende. Gehen, wie im „Einsamen Weg“, die
Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören, Entwurzelten, die nicht mehr zur erdenfesten Gesellschaft gehören,
gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen gern in ein unbekanntes Jenseits, dann trällert es noch ein bißchen
in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas in ihrer Seele. Das Nachtigallmäßige, das Amselmäßige, etwas
seltsam=kostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der seltsam=kostbar zwischen den Zeiten Schwebendes ist das Wesen der
Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwvermütig frohe Schnitzlerschen Weichheit. Dieser geduldige, schwvermütig frohe
Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es - Menschengestalter starb in einer Zeit, in der — so scheint es -
dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das dieses milde Fühlen und Denken keinen Raum mehr hat. Und das
ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die ist das Unvergängliche an diesem Dichter: er hat eine Welt, die
wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere wenn auch nicht immer und heute nicht mehr die unsere
das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬ das Kulturgeschehen und die menschliche Entwicklung stark be¬
einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes einflußte, in fester Prägung für die Weltliteratur erhalten, jenes
wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬ wienerische und österreichische Wesen, das jammervoll und still ein¬
ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens ging, hat er im letzten Augenblick seines Verklingens und Vergehens
für die Nachwelt aufgezeichnet. für die Nachwelt aufgezeichnet.
Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende Einmal wurde dieser milde, alles verstehende, alles verzeihende
Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als Dichter fast zum sozialen Ankläger. Das war damals, da er als
Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬ Gegenstück zum „Anatol“ das kleine Trauerspiel vom „Frei¬
wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren, wild“ schrieb. Der Dichter setzte die jungen und alten Herren,
die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und die die Mädchen aus dem Volke in die Chambre separées und
in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank. in die noch geheimeren Winkel locken, beinahe auf die Anklagebank.
Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen. Aber das war nur eine Episode in dem Schnitzlerschen Schaffen.
Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu Im Grunde war er versöhnlicher. Er dachte, daß Jugend zu
Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des Jugend gehört. Nicht lange fragen, ob der strenge Paragraph des
Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn Sitten= und Justizgesetzes den Verführer bestrafen will oder ihn
entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den entschuldigen. Man las, man sah, aufgeführt im Theater, den
„Reigen", ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig „Reigen", ein Lebenstanz, und — trotz allem — auch ein wenig
Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben Totentanz der Liebe. Die Jünglinge und die Mädchen, sie geben
und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird und nehmen sich ohne viel Grübelei. Alles ist natürlich; bejaht wird
olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen olles, was Sinne fordern, wenn nur Anmut regiert. Und gegen
diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders diese Anmut empörten sich die Mucker. Sie empörten sich besonders
in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler in Berlin und unternahmen gegen Schnitzler und seine Künstler
einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist einen Infamierungsprozeß. Es siegte glücklicherweise der Geist
der Anmut. der Anmut.
Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in Und doch fehlte in der persönlichen Existenz Schnitzlers und in
seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein seiner Lebensauffassung nicht das Tragische in seiner Tiefe. Sein
Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch Patriotenstück vom jungen Medardus, der Oesterreich politisch
freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬ freimachen will, zeigt einen Schwärmer, der fähig ist, sich aufzu¬
opfern. Und es fehlen, unter den Schnitzlerschen Menschen, die so opfern. Und es fehlen, unter den Schnitzlerschen Menschen, die so
liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter. liebenswürdig genießen und untergehen, auch nicht die Außenseiter.
Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die Ja, sie sind besonders rührend und besonders echt. Packt es die
Molancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl Molancholiker an der Donau, wie etwa den Leutnant Gustl
und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt und das Fräulein Else, die beide aus härterem Holze geschnitzt
sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬ sind, dann steigen sie bis in den finstersten Abgrund des Seelen¬
schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬ schicksals hinab. In Oesterreich war soviel Aufrichtigkeit nicht er¬
wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den wünscht, als die Habsburger noch kaiserlich regierten. Gegen den
Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬ Militärarzt Arthur Schnitzler wurde ein Ehrenverfahren ein¬
geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte. geleitet, weil er die k. k. Armee gekränkt haben sollte.
Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen, Oft sind die Schnitzlerschen Gestalten Doppelnaturen, Wesen,
die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬ die sich komödiantisch beleuchten und dauernd behorchen. Das Schau¬
spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬ spielerische, das Tänzerische, die Natur des hochkultivierten Lebens¬
genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert genießers war das Hauptproblem Schnitzlers. Er hörte die hundert
Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er Zwischentöne, die in zarten, empfindsamen Seelen erklingen. Er
deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬ deutete sie auf seine weltmännische Art. So wurde er ein Schrift¬
steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus, steller des österreichischen Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus,
der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte der sich aus der Banalität hinüberretten möchte in die vertiefte
und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬ und verfeinerte Seelenkunde. Und so deutete das Werk des Ver¬
storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der storbenen hinüber auch in unsere Zeit, in der die Erforschung der
Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist. Seele eine selbständige wissenschaftliche Disziplin geworden ist.
Max Hochdorf. Max Hochdorf.
Das Volksbildungsaml Prenzlauer Berg veranstaltet eine Das Volksbildungsaml Prenzlauer Berg veranstaltet eine
Wilhelm=Raabe=Gedenkfeier am Freitag, dem 23. Ok¬ Wilhelm=Raabe=Gedenkfeier am Freitag, dem 23. Ok¬
thvr. asteurstr. 11—46. Mitwirkende: Käthe Conrad (Klavier), thvr. asteurstr. 11—46. Mitwirkende: Käthe Conrad (Klavier),
Lektor schinger (rien und Rezitation), Hans Ibachim Andresen Lektor schinger (rien und Rezitation), Hans Ibachim Andresen
(Gefang). Beginn 20 Uhr. (Gefang). Beginn 20 Uhr.