VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 176

12. 12.
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Schnitzler's Death Schnitzler's Death
OBSERVER OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11 WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43 TELEPHON R-23-0-43
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Neues Wiener Ertrablatt Neues Wiener Ertrablatt
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23 OKT. 1931 23 OKT. 1931
Der Dichter des süßen Mädels Der Dichter des süßen Mädels
Arthur Schnitzler ist gestern, knapp an Arthur Schnitzler ist gestern, knapp an
der Schwelle zum 70. Lebensjahr, durch die der Schwelle zum 70. Lebensjahr, durch die
Pforte des Todes geschritten. Durch seine Pforte des Todes geschritten. Durch seine
zahlreichen Werke (Bühnenstücke und No¬ zahlreichen Werke (Bühnenstücke und No¬
vellen) geht ein Zug der Trauer, hervor¬ vellen) geht ein Zug der Trauer, hervor¬
gerufen durch das Unbehagen unserer Kul¬ gerufen durch das Unbehagen unserer Kul¬
tur und durch die Unmöglichkeit, Freude tur und durch die Unmöglichkeit, Freude
an einem Leben zu haben, das, als ob es an einem Leben zu haben, das, als ob es
ein schweres Verbrechen wäre, ausnahms¬ ein schweres Verbrechen wäre, ausnahms¬
los mit dem Tode bestraft wird. Schon in los mit dem Tode bestraft wird. Schon in
jungen Jahren begann Arthur Schnitzler, jungen Jahren begann Arthur Schnitzler,
von Beruf Arzt, mit Dichtungen, die gleich¬ von Beruf Arzt, mit Dichtungen, die gleich¬
sam als eine Essenz aus dem Wiener sam als eine Essenz aus dem Wiener
Wesen gewonnen waren. „Anatol" und Wesen gewonnen waren. „Anatol" und
„Liebelei“ sind die pikantesten Blüten die¬ „Liebelei“ sind die pikantesten Blüten die¬
ses Schaffens gewesen, für die Generation ses Schaffens gewesen, für die Generation
des 19. Jahrhunderts unentbehrlich und des 19. Jahrhunderts unentbehrlich und
von dieser sehr geliebt. Arthur Schnitzlers von dieser sehr geliebt. Arthur Schnitzlers
Melancholie entstammte seiner Einsicht in Melancholie entstammte seiner Einsicht in
die mutmaßliche Zwecklosigkeit des Da¬ die mutmaßliche Zwecklosigkeit des Da¬
seins. Er wußte nicht, wozu es wäre, und seins. Er wußte nicht, wozu es wäre, und
gerade diese Seite seines Agnostizismus gerade diese Seite seines Agnostizismus
machte den besonderen Wert seiner Dich¬ machte den besonderen Wert seiner Dich¬
tungen aus, die, oft ans Erotische strei¬ tungen aus, die, oft ans Erotische strei¬
fend, zu einem „Reigen“ zusammengefaßt, fend, zu einem „Reigen“ zusammengefaßt,
sogar zu einer Reihe von Theaterskandalen sogar zu einer Reihe von Theaterskandalen
führten. Das „süße Mädel", ine Erschei¬ führten. Das „süße Mädel", ine Erschei¬
nung des 19. Jahrhunderts, war seine nung des 19. Jahrhunderts, war seine
ureigenste Kreation. Ihm brachte noch der ureigenste Kreation. Ihm brachte noch der
alternde Dichter seine köstlichen Wortge¬ alternde Dichter seine köstlichen Wortge¬
schenke dar, die einer inneren Musik nicht schenke dar, die einer inneren Musik nicht
entbehrten. In seinen Theaterstücken, die entbehrten. In seinen Theaterstücken, die
nicht selten poetische Schöpfungen von an¬ nicht selten poetische Schöpfungen von an¬
sehnlichem Rang sind, offenbarte Arthur sehnlichem Rang sind, offenbarte Arthur
Schnitzler den Zauber seiner kultivierten Schnitzler den Zauber seiner kultivierten
Art. Sie sind in gewissem Sinne nicht Art. Sie sind in gewissem Sinne nicht
real, sondern schwimmen in verworrener real, sondern schwimmen in verworrener
Metaphysik, die oft mehr andeutet, als sie Metaphysik, die oft mehr andeutet, als sie
in Wahrheit zu sagen hat. Wer Schnitzlers in Wahrheit zu sagen hat. Wer Schnitzlers
Weltanschauung näher kennen lernen will, Weltanschauung näher kennen lernen will,
muß einen Blick in sein Büchlein tun, darin muß einen Blick in sein Büchlein tun, darin
er einen Teil seiner Lebensweisheit in fein er einen Teil seiner Lebensweisheit in fein
geschliffenen Aphorismen niedergelegt hat. geschliffenen Aphorismen niedergelegt hat.
Sein Name ist aus der Geschichte der Wie¬ Sein Name ist aus der Geschichte der Wie¬
ner Literatur nicht auszulöschen. Schnitzler ner Literatur nicht auszulöschen. Schnitzler
galt lange Zeit als beglaubigter Repräsen¬ galt lange Zeit als beglaubigter Repräsen¬
tant jenes überfeinerten Wien, das heute tant jenes überfeinerten Wien, das heute
nicht mehr existiert. Er war ein Psychologe nicht mehr existiert. Er war ein Psychologe
entschwundener Seelenvorgänge. Das Wien, entschwundener Seelenvorgänge. Das Wien,
das sich in seinen Dichtungen spiegelte, ist das sich in seinen Dichtungen spiegelte, ist
nicht mehr da. Es hatte aber, ohne Zwei¬ nicht mehr da. Es hatte aber, ohne Zwei¬
fel, seine hohen Reize! Mit ihm entschwand fel, seine hohen Reize! Mit ihm entschwand
nun auch sein beliebtester Sänger! nun auch sein beliebtester Sänger!
h. l. h. l.