VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 208

2. Schnitzler's Death 2. Schnitzler's Death
box 43/1 box 43/1
OB OB
ERVER ERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11- WIEN, I., WOLLZEILE 11-
TELEPHON R-23-0-43 TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus Ausschnitt aus
Nn Lagigen Benug Nn Lagigen Benug
2 3. OKT. 1937 2 3. OKT. 1937
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
Wien, 21. Oktober. Wien, 21. Oktober.
Arthur Schnitzler ist heute Arthur Schnitzler ist heute
nachmittag in Wien im 70. Lebensjahre nachmittag in Wien im 70. Lebensjahre
einem Schlaganfall erlegen. einem Schlaganfall erlegen.
Die erste große Erzählung, mit der Arthur Die erste große Erzählung, mit der Arthur
Schnitzler vor fast vierzig Jahren hervortrat, hieß Schnitzler vor fast vierzig Jahren hervortrat, hieß
„Sterben", die letzte — erst vor einigen Tagen er¬ „Sterben", die letzte — erst vor einigen Tagen er¬
schienen — heißt „Fluch! in die Finsternis". Er hat schienen — heißt „Fluch! in die Finsternis". Er hat
diese Flucht unternommen, bevor wir ihm noch aus diese Flucht unternommen, bevor wir ihm noch aus
Anlaß seines nahen 70. Geburtstages sagen konnten Anlaß seines nahen 70. Geburtstages sagen konnten
warum wir in ihm den bedeutendsten Schriftsteller warum wir in ihm den bedeutendsten Schriftsteller
der naturalistischen Generation sehen. Weil seine der naturalistischen Generation sehen. Weil seine
melancholischen Helden auf das Pathos verzichten, melancholischen Helden auf das Pathos verzichten,
als es noch im Schwange war. Weil seine Menschen als es noch im Schwange war. Weil seine Menschen
stiller, brüchiger und dabei gefaßter waren, als stiller, brüchiger und dabei gefaßter waren, als
literarische Helden bis dahin zu sein pflegten. Weil literarische Helden bis dahin zu sein pflegten. Weil
in seiner Sprache die Budike, die Stehbierhalle, die in seiner Sprache die Budike, die Stehbierhalle, die
Kutscherkneipe, das Aufstoßen im Dialekt, das Kutscherkneipe, das Aufstoßen im Dialekt, das
Rülpsen mit Saftigkeiten verpönt blieben, und eine Rülpsen mit Saftigkeiten verpönt blieben, und eine
Zartheit der Mittel auf eine unzeitgemäße Zartheit Zartheit der Mittel auf eine unzeitgemäße Zartheit
der Seele schließen ließ. der Seele schließen ließ.
Anatol, der Schlachtenbummler der Gefühle, Pro¬ Anatol, der Schlachtenbummler der Gefühle, Pro¬
fessor Vernardi, der hilflose Helfer, der liebesfeige fessor Vernardi, der hilflose Helfer, der liebesfeige
Liebesheld, Bertha Garlan, Opfer ihrer Opferung, Liebesheld, Bertha Garlan, Opfer ihrer Opferung,
Fräulein Else, die ihre Liebe und ihren Tod in Fräulein Else, die ihre Liebe und ihren Tod in
sich nährt, bis sie daran stirbt, Therese Fabiani, sich nährt, bis sie daran stirbt, Therese Fabiani,
Bürgerin aus schlechtem und verbrauchtem Blut, das Bürgerin aus schlechtem und verbrauchtem Blut, das
mit magischem Gewicht sie abwärts zieht, eine Fülle mit magischem Gewicht sie abwärts zieht, eine Fülle
wanderbar zusammengesetzter vielfältiger, viel päl¬ wanderbar zusammengesetzter vielfältiger, viel päl¬
tiger Gestalten, die nur im Takt bleiben, bis eine tiger Gestalten, die nur im Takt bleiben, bis eine
Wut der Leidenschaft ihre mühsamen Nähte auf¬ Wut der Leidenschaft ihre mühsamen Nähte auf¬
reißt. Zersetzt, zerstört treten sie mit unhörbarem reißt. Zersetzt, zerstört treten sie mit unhörbarem
Schritt in die Finsternis ab. Schritt in die Finsternis ab.
Vom Oesterreicher hat Schnitzler sowohl die An¬ Vom Oesterreicher hat Schnitzler sowohl die An¬
mut wie die Trauer. Aus welchem Paradies auch mut wie die Trauer. Aus welchem Paradies auch
immer vertrieben, dieses letzten Wieners aus der immer vertrieben, dieses letzten Wieners aus der
Kaiserzeit Haltung ist heiter, seine Melancholie ist Kaiserzeit Haltung ist heiter, seine Melancholie ist
stamm. „Sentimentalität ist unter Preis erhandel¬ stamm. „Sentimentalität ist unter Preis erhandel¬
tes Gefühl“, hat Schnitzler einmal geschrieben. Da¬ tes Gefühl“, hat Schnitzler einmal geschrieben. Da¬
rach handeln seine Menschen. Seine Männer setzen rach handeln seine Menschen. Seine Männer setzen
ch nicht ganz ein. Sie sind bei ihren Gefühlen nur ch nicht ganz ein. Sie sind bei ihren Gefühlen nur
zu Gast, sie sind zu feige für die Gefühle, an die sich zu Gast, sie sind zu feige für die Gefühle, an die sich
ihre Frauen überschwenglich verlieren. Daß sie mehr ihre Frauen überschwenglich verlieren. Daß sie mehr
als alles geben und mehr als alles wollen, zeichnet als alles geben und mehr als alles wollen, zeichnet
Schnitzlers Frauen, daß sie weniger als alles geben, Schnitzlers Frauen, daß sie weniger als alles geben,
zeichnet seine Männer aus. So vergehen die einen, zeichnet seine Männer aus. So vergehen die einen,
weil sie zu viel, die anderen, weil sie zu wenig weil sie zu viel, die anderen, weil sie zu wenig
leben. Die einen verschwinden, weil sie sich ver¬ leben. Die einen verschwinden, weil sie sich ver¬
schwenden, die anderen, weil sie sich verhalten. Alle schwenden, die anderen, weil sie sich verhalten. Alle
aber, so genußsüchtig sie sind, glauben nicht mehr an aber, so genußsüchtig sie sind, glauben nicht mehr an
ihre Genußfähigkeit. Ein Heer von übermüdeten ihre Genußfähigkeit. Ein Heer von übermüdeten
Spielern, unter tändelnder Grazie Hoffnungslosigkeit Spielern, unter tändelnder Grazie Hoffnungslosigkeit
verbergend, macht ein romanhaftes Getue aus Angst verbergend, macht ein romanhaftes Getue aus Angst
vor der Finsternis. Nun treten sie mit ihrem vor der Finsternis. Nun treten sie mit ihrem
großen Schöpfer ins Dunkle. Todeswillig waren sie großen Schöpfer ins Dunkle. Todeswillig waren sie
immer, mehr als liebeswillig. Nun finden sie ihren immer, mehr als liebeswillig. Nun finden sie ihren
Tod, denn das Ende des Künstlers Arthur Schnitzley Tod, denn das Ende des Künstlers Arthur Schnitzley
ist hier das Ende einer ganzen Kunst. ist hier das Ende einer ganzen Kunst.
Arno Schlrokaubr. Arno Schlrokaubr.